Der Daumen des Kaisers – wie Europa seine Zukunft verschenkte
Ein Bild, das unsere Zeit besser erklärt als jede Analyse:
Donald Trump als römischer Kaiser, der den Daumen nach unten hält und so über Leben oder Tod entscheidet.
Über die Ukraine wird nicht mehr in Kyjiw, Brüssel oder Berlin entschieden. Sondern in Washington, je nach Laune, je nach letztem Besucher, je nachdem, welches Bild gerade auf Fox News läuft.
Unsere Regierung hat sich selbst von der Rolle des Unterstützers längst auf die des unbeteiligten Zuschauers zurückgezogen.
Wir haben unsere Verantwortung outgesourct an einen Mann, der Außenpolitik wie eine Reality-Show betreibt. Haben die Zukunft der Ukraine und damit Europas einem Möchtegern-Kaiser in Washington und einem Möchtegern-Zaren im Kreml überlassen. Dabei geht es in diesen Stunden um Alles oder Nichts.
Die Schlacht um Pokrowsk – ein Jahr für eine Stadt
Seit Tagen gibt es unterschiedliche Meldungen. Die Stadt Pokrowsk im Osten der Ukraine sei schon von den Russen eingenommen, dann wird wieder dementiert.
Glaubt man den Schreibern, scheint sich hier die Schicksalsschlacht im russischen Krieg gegen die Ukraine zu entscheiden. Dabei ist Pokrowsk nur eine Stadt von vielen, die fallen könnte oder nicht.
Warum ist Pokrowsk so wichtig?
Das hat mit Trumps Aufmerksamkeitsspanne und seinem Bauchgefühl zu tun, ob er die Ukraine noch weiter unterstützen möchte oder nicht. Aber warum gerade diese Stadt?
Trump hat, so vermutet man, offenbar den Rand gestrichen voll. Putin spurt nicht, wie er es möchte. Er ist nicht auf einen Waffenstillstand eingegangen, da es gegen seine Idee ist, die ganze Ukraine zu unterwerfen.
Selenskyj hat wiederum Trump glaubhaft gemacht, dass Putin eigentlich am Ende ist, kaum weiterkommt, die Ukraine weiterhin tapfer abwehren kann.
Doch Pokrowsk könnte dieses Bild zerstören und Putin im Kleinhirn Trumps doch recht bekommen lassen, nach dem Motto: ach, schon wieder eine Stadt erobert, die Russen sollen nun endgültig die Ukraine einsacken.
Den Fall Pokrowsk jedoch so hochzujazzen ist ein Irrsinn:
Seit einem Jahr kämpft Russland um Pokrowsk. Ein ganzes Jahr.
Täglich sterben tausende russische Soldaten für unbewohnte Häuserblocks im Donbass, einer Region, die Putin bereits seit 2014 „befreien" wollte. Die Fortschritte der Russen sind minimal, die Verluste enorm.
Wie schlecht die Russen hier weiterkommen oder wie stark die Ukrainer trotz Unterzahl und weniger Waffen hier abwehren, zeigt ein schlagender Vergleich: Vier Jahre hat die Rote Armee zwischen 1941 und 1945 gebraucht, um von Moskau bis nach Berlin zu marschieren. Vier Jahre, um Nazi-Deutschland zu besiegen. Heute kämpft Russland seit einem Jahr um eine Stadt im Donbass.
Vier Jahre dauert der russische Krieg gegen die Ukraine nun bald, und das Land steht immer noch!
Aber diese Einordnung interessiert nicht mehr. Sie schafft es nicht in die Tagespolitik, nicht in die emotionalen Bilder, die über Satellit nach Washington gesendet werden. Dort zählt nur der Moment: Pokrowsk fällt oder fällt nicht.
Die Lichter in Kyjiw gehen aus oder nicht. Und danach richtet Trump seinen Daumen.
Putins Strategie – Bilder statt Siege
Russische Militärblogger verkünden daher siegesgewiss, dass von Seiten der Ukrainer kein großer Durchbruch kommt. Sie schreiben offen: Die Einnahme von Pokrowsk wird „den internationalen Ruf Selenskyjs beschädigen", danach folgen Verhandlungen, „von denen aber keine schnellen Ergebnisse zu erwarten sind."
Es geht nicht um militärische Entscheidungen. Es geht lediglich um Wahrnehmung. Um Trumps Gefühl, dass die Ukraine verliert.
Um dunkle Städte ohne Strom, um Bilder von Zerstörung, um die Suggestion der Hoffnungslosigkeit, die uns gerade in die Medien gespült wird.
Putin spielt nicht auf militärischen Sieg. Er spielt auf Trumps Ungeduld. Auf europäische Kriegsmüdigkeit. Auf unsere Unfähigkeit, mehr als 48 Stunden bei einem Thema zu bleiben.
Europas Selbstaufgabe – von „unmöglich" zu gleichgültig
Wir Europäer haben uns von Anfang an einen schlanken Fuß gemacht, trotz gegenteiliger Ansagen. Gleich zu Beginn kam Deutschland mit 5000 Helmen und schnellen Argumenten, warum wir bitteschön keine Patriot-Systeme liefern könnten: „Das sind NATO-Waffen. Das wäre quasi ein Kriegseintritt des Westens."
Inzwischen ist die Ukraine zwar mit einigen unserer Patriots versorgt – Putin hat uns auch keine Atombombe nach Berlin geschickt – nur dass inzwischen Tausende gestorben sind, weil wir zu feige waren, klar zu sein. Von der leidigen Debatte um die Lieferung von Leopard-Panzern und der Un-Debatte um die Nicht-Lieferung des Taurus mal ganz zu schweigen.
Seit Monaten ist es aber noch viel schlimmer. Deutschland und Europa lassen Trump irgendwie machen, zahlen jede Menge Geld, da Trump nicht mehr einen Finger für die Ukraine rühren will, dort aber einen tollen Bodenschätze-Deal abgreifen konnte und nun zum Daumen-Entscheider für das Wohl und Wehe der Ukraine und Europas wird.
Und wir beschäftigen uns seit Monaten beinahe ausschließlich mit unserer Innenpolitik. Koalitionsausschüsse, Wahlkampf, AfD-Verbotsdiskussionen. Die Ukraine ist zur Hintergrundmusik geworden. In den Medien gibt es kaum noch Berichte über „Wieder Drohnenangriffe, wieder Tote" – wir scrollen ohnehin weiter. Das klickt nicht, das bringt keine Quoten. Was interessiert uns die Ukraine, wir haben eigene Sorgen.
Winter is coming
Die Ukraine steht vor dem härtesten Winter seit Kriegsbeginn. Die Energieinfrastruktur ist massiv beschädigt. Die russischen Angriffe werden brutaler, präziser, tödlicher. Und während Kyjiw friert, sitzt Viktor Orban in diesen Tagen lächelnd neben Trump und sagt über das ukrainische Schicksal: „Wunder kann es schon geben, aber sie haben eh keine Chance."
Und Trump lacht mit.
Das ist das Bild unserer Zeit.
Verpasste Chancen, verlorene Zeit
Wir haben immer noch keine europäische Verteidigungspolitik auf den Weg gebracht. Keine eigenständige Außenpolitik. Keine strategische Unabhängigkeit. Wir haben fast vier Jahre Zeit gehabt – und sie verplempert mit innenpolitischen Scharmützeln und der Illusion, dass Trump schon irgendwie vernünftig werden würde.
Haben wir nicht.
Jetzt stehen wir da: ohnmächtig, abhängig, zusehend. Die Zukunft der Ukraine entscheidet sich in Washington. Und die Zukunft Europas gleich mit. Wir haben es nicht einmal geschafft, eine Entscheidung über das eingefrorene russische Vermögen hinzubekommen.
Das ist nicht nur ein außenpolitisches Versagen. Das ist ein historisches.
Und wenn in ein paar Jahren die Geschichtsbücher geschrieben werden, wird dort stehen: Europa hatte die Macht, die Mittel, die Wirtschaftskraft. Aber nicht den Willen. Stattdessen haben wir zugeschaut, wie zwei Männer – einer mit einer Krone, einer mit einem Zepter – über unser Schicksal entschieden haben.
Wir haben ihnen den Daumen überlassen.
Und sie werden ihn nach unten senken, wie einst ein Caligula, Nero oder Commodus, die es so richtig geil fanden, sich im Leid anderer zu suhlen.
Und wir, das Volk, applaudieren und bekommen wieder billiges russisches Gas.
Panem et circenses …
P.S. Inspiriert von Paul @Ronzheimer's Podcast-Analyse vom 11. November 2025 über die Schlacht um Pokrowsk und Putins Strategie gegenüber Trump. Die Interpretation und Anklage sind meine eigenen.