Die letzte Patrone der Demokratie

Ein Kanzler, der im ersten Wahlgang scheitert. Eine AfD, die triumphiert. Und ein Merz, der als letzter Halt beschworen wird. Was bleibt von einer Demokratie, wenn sich alle nur noch selbst zerlegen?

Die letzte Patrone der Demokratie

07.05.2025
Jetzt muss es gelingen
Mein Kommentar aus der demokratischen Notaufnahme

Es gab – und ich mag mich irren – in den vergangenen Monaten so viele „Störfälle“ in unserer Demokratie wie nie zuvor in den sechs Jahrzehnten, die ich auf diesem Planeten wandle. Was wir jüngst erlebt haben, hat eine neue Qualität.

Gezanke, Richtungsstreit, parteiinterne Machtkämpfe – das alles ist nichts Neues. Es gab Strauß gegen Brandt, Lafontaine gegen Schröder, alle gegen Westerwelle.

Doch damals gab es immer ein paar Konstanten: feste Lager, klarere Mehrheiten, ein gewisser Respekt selbst unter Gegnern – und doch auch so etwas wie ein stilles Einverständnis, dass die Republik an erster Stelle steht.

Man konnte sich hart bekämpfen, aber man wusste, wann Schluss war. Heute ist diese gemeinsame Grundlage erschreckend brüchig geworden.

Gestern, zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik: Ein Kanzlerkandidat fällt im ersten Wahlgang durch. Friedrich Merz erhielt 310 Stimmen – 18 weniger, als seine Koalition eigentlich zusammenbringen müsste. Es wurde spekuliert: Wer waren die Abweichler? Wer hat ihm die Gefolgschaft verweigert? Vertrauen sieht anders aus. Und der Beginn einer neuen Regierung allemal!

Im Herbst war es das sogenannte D-Day-Papier von Christian Lindner, das die Ampel endgültig zerriss. Die Medien analysierten wie Forensiker bis ins Letzte: Wer hat wann was gewusst, gesagt, verschwiegen oder gestreut? Wer war schuld, dass Olaf Scholz, der Niederpulsige, Lindner entließ – dramatisch, laut, Scholz-fremd. Die Nerven lagen nach Monaten des Ampel-Gezerres mit einer Oppositionspartei in der Regierung blank, angefeuert von der echten Opposition und den geneigten Medien.

Ebenfalls unvergessen auch dieses Erdbeben: Die Klage der Union vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Haushalt der Ampel. Nicht, um die Demokratie zu schützen – sondern um der Regierung zu beweisen, dass sie böse Fehler macht. Und das ausgerechnet in einer Phase, in der es um alles ging: Pandemie-Folgen, Krieg in Europa, Energiekrise, Inflation. Die Regierung versuchte, Lösungen zu finden – pragmatisch, nicht immer elegant, aber im Sinne der Stabilität. Und wurde zu allem Überfluss noch juristisch gestellt.

Das Urteil aus Karlsruhe war sicher rechtlich geboten. Es war dennoch ein politischer Donnerschlag – und ein Risiko für die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik, an der quasi über Nacht durch den Krieg, durch die gestoppte Gaszufuhr überall Großbaustellen entstanden.

Bitter war im Abgang vor allem die Doppelmoral, die sich später zeigte: Dieselben Kräfte, die vorher auch weiterhin vehement jede Aufweichung der Schuldenbremse verdammten, ließen sie sich später selbst vom Bundestag genehmigen – für Rüstung, Infrastruktur, „Zukunftsaufgaben“.

Plötzlich ist Geld da. Keine Rede mehr von „Kinderbuchautor“ oder „die Grünen könnten nicht mit Geld umgehen“. Wer vorher so laut verurteilt, sollte später zumindest leise Abbitte leisten. Eigentlich eine Frage des Anstands!

Und jetzt geht das Gegifte gerade so weiter. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichte Nancy Faeser die Entscheidung des Bundesamts für Verfassungsschutz – die AfD wird als gesichert rechtsextrem eingestuft.
Eigentlich ein längst überfälliger und mutiger Schritt.

Doch statt eines klaren gemeinsamen Signals aller Demokraten – und einem lauten endlich! – folgten Getuschel, Genörgel, Kritik am „Timing“. Als hätte die SPD der neuen Regierung ein unliebsames Ei ins Nest gelegt und nicht etwa eine Gefahr klar benannt, die uns alle angeht.

Den Schock eines weiteren Erdbebens haben wir natürlich ebenfalls nicht vergessen: Wie Merz erstmals mit den Stimmen der AfD im hohen Haus des Bundestages zockte und sich verzockte. Die Kerben im Bette unserer Demokratie haben sich reichlich angesammelt.

Mir persönlich geht es bei allem, was ich hier schreibe, nicht um eine vorab verfasste Abrechnung mit der neuen Regierung. Nicht darum, sie vorschnell ins falsche Licht zu setzen, bevor sie überhaupt angefangen hat, obwohl es dafür manchen Grund gibt.

Mir geht es darum, dass dieser Zustand endlich aufhört. Dass wir wieder begreifen, worum es geht: Nicht um parteipolitische Punktsiege – sondern um die Frage, ob wir, - die Bundesrepublik Deutschland- überhaupt noch wehrhaft sind.

Aber es gibt auch positive Beispiele:
Ohne die Grünen hätte die neue Regierung z.B. ihre Milliarden Sondervermögen gar nicht durchbekommen.

Und auch gestern:
Es waren die Grünen und die Linken – die Friedrich Merz inhaltlich und persönlich kaum ferner stehen könnten: Sie haben mit ihrer Zustimmung ermöglicht, dass der zweite Wahlgang zur Kanzlerwahl am selben Tag noch stattfinden konnte.
Sie hätten das Verfahren verzögern, blockieren, taktieren können.

Haben sie aber nicht! Weil es um mehr ging als um Merz. Es ging darum, Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Um Stabilität. Um Haltung. Das war keine Unterstützung für den Mann Merz, sondern ein Dienst an der Demokratie.

Wie hätte Deutschland dagestanden, wenn der zweite Wahlgang erst drei Tage später stattgefunden hätte? Macron hätte alles verschieben müssen, statt heute mit Merz in die Zukunft zu denken, der Besuch in Polen wäre gleich mit ins Wasser gefallen, und Kyjiw braucht ebenfalls endlich eine zuverlässige Perspektive made in Germany.

Es kommt eben nicht nur darauf an, wer regiert, sondern wie wir Demokraten miteinander umgehen.

Ob wir bereit sind, für das größere Ganze über Gräben zu springen – oder sie tiefer graben. Diese Sprünge dürfen aber nicht nur immer von einer Seite verlangt werden.
Wir sollten aufhören, uns gegenseitig die Pest an den Hals zu wünschen – oder eben wieder erkennen, dass es auf den Umgang ankommt. Auf den richtigen Ton. Auf das Miteinander. Auf Verantwortung. Auf unser Land.

Denn inzwischen ist die AfD in den Umfragen bekanntlich stärkste Partei. Und wenn selbst Söder sagt, Merz sei „die letzte Patrone der Demokratie“ gegen eine mögliche AfD-Regierung, dann ist es Zeit, sich am Riemen zu reißen. Nicht übermorgen. Jetzt.

Denn wenn wir so weiter machen, wie in den vergangenen Monaten und dann brauchen wir uns über das Ende der Demokratie nicht mehr zu wundern. Dann haben die einen Demokraten geholfen, die anderen niederzustrecken.

Aber dann können wir den Laden auch gleich zusperren – und den Schlüssel bei Björn Höcke abgeben.