Korruption hat viele Gesichter – nicht nur in der Ukraine, auch bei uns

Eine notwendige Korrektur deutscher Selbstgerechtigkeit

Wir reden in Deutschland gern über Korruption –
solange sie möglichst weit weg stattfindet.
Am liebsten über die Ukraine.

Aber wer genauer hinschaut, merkt schnell:
Wir haben selbst genug offene Baustellen, über die wir erstaunlich wenig reden.

Dieser Text ist keine Relativierung.
Sondern ein Spiegel.
Denn wer Transparenz fordert, muss sie zuerst bei sich selbst wagen.


1. Die Ukraine: Ein Skandal – und eine Reaktion

Der neue Energoatom-Skandal ist bitter:
Rund 100 Millionen Dollar sollen in einem Korruptionsnetzwerk versickert sein,
während die Ukraine gleichzeitig ihre Energieinfrastruktur gegen russische Angriffe schützt.

Und ja:
Das muss lückenlos aufgeklärt werden.
Selenskyj hat keine Wahl – und er handelt.

Korrektur statt Deckmantel

Bereits im vergangenen Sommer brannte kurz ein Skandal auf: Selenskyj hatte ein Gesetz ändern lassen, das seine Kontrolle über das Antikorruptionsbüro NABU ausgeweitet hätte.
Ein Fehler.
Doch die Reaktion war bemerkenswert:

  • die Ukrainer gingen auf die Straße
  • es gab internationaler Druck
  • das Gesetz wurde innerhalb einer Woche wieder zurückgeschraubt

Nun, vor wenigen Tagen, wurde der bisher größte Korruptionsfall seit Kriegsbeginn bekannt:
Führungskräfte des staatlichen Atomkonzerns Energoatom sollen rund 100 Millionen Dollar veruntreut haben, darunter ein enger Vertrauter Selenskyjs, der als strategischer Schlüsselmann gilt.

Die Masche:
Aufträge für sicherheitsrelevante Arbeiten an Atomkraftwerken wurden künstlich verzögert, bis die Beteiligten sich über die Höhe der Schmiergelder einigten.
Solange gezahlt wurde, ging es weiter.
Wenn nicht, blieb der „Schlagbaum“ unten: Rechnungen wurden nicht bezahlt, Projekte blockiert — mitten im Krieg, während Russland Energieanlagen angreift.

Konkret geht es um:

  • manipulierte Ausschreibungen
  • verschleppte Schutzmaßnahmen für AKW
  • fingierte Rechnungen
  • nicht ausgeführte, aber bezahlte Arbeiten
  • mutmaßlich über Jahre gewachsene Strukturen von Kickbacks und Schmiergeldrouten

Kurz:
Ein sicherheitsrelevanter Staatskonzern wurde wie ein privater Geldautomat behandelt.

Verdächtig sind Personen aus Selenskyjs unmittelbarem Umfeld, darunter:

  • Timur Mindich, ein alter Weggefährte aus der Kvartal-95-Zeit, der laut Medienberichten das Land verlassen hat (u. a. Richtung Israel genannt).
  • German Haluschenko, Justizminister (ehemals Energieminister), wurde offiziell suspendiert, nachdem Ermittler Verbindungen zwischen seinem früheren Amt und Energoatom aufgedeckt hatten.
  • Svitlana Hrynchuk, damalige Energieministerin, reichte ihren Rücktritt ein.
  • Mehrere hochrangige Behördenmitarbeiter wurden festgenommen oder zur Fahndung ausgeschrieben.

Und wie reagiert Selenskyj?

Das ist der entscheidende Punkt.
Was auch immer man von ihm hält — seine Reaktion war unverzüglich, öffentlich und hart. Er hat:

  • Minister entlassen
  • engste Vertraute suspendiert oder abgesetzt
  • Ermittlungen eingeleitet durch NABU, SAPO und SBU
  • Durchsuchungen angeordnet in mehreren Behörden
  • Fluchtverdächtige international zur Fahndung ausgeschrieben
  • Rechnungshof, Antikorruptionsbehörde und Justiz parallel aktiviert
Seine klare Botschaft: Niemand ist unantastbar – auch nicht im eigenen Umfeld

Keine Beschönigung, keine Ausreden, keine Verzögerung.
Er räumt auf. Radikal. Öffentlich. Und im eigenen Umfeld.


2. Deutschland: Unser eigenes Korruptionsproblem

Auch Bundeskanzler Friedrich Merz telefoniert umgehend mit dem ukrainischen Präsidenten, um ihn zu ermahnen, energische Schritte gegen die Korruption in seinem Land vorzunehmen.

Während Politiker und Medien weltweit mit dem moralischen Zeigefinger auf Kyjiw zeigen, ignorieren wir gern den Balken in unserem eigenen Auge:

Die Bundesregierung hätte in den letzten Jahren so einige Korruptions- und Lobbyismusfälle aufarbeiten können, deren Ausmaß den Energoatom-Skandal mit seinen lausigen 100 Millionen wie eine Randnotiz erscheinen lassen, hat sie aber nicht. Unvergessen sind folgende Fälle:

Andrea Tandler – 48 Millionen Euro Provision

Während der Pandemie verdiente Andrea Tandler, Tochter eines CSU-Politikers, rund 48 Millionen Euro an Maskenprovisionen.
Die Geschäfte liefen im Verantwortungsbereich des Gesundheitsministeriums unter Jens Spahn. Was folgte:

  • Eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung
  • Der BGH kürzte das Strafmaß
  • Jetzt hat sie aus gesundheitlichen Gründen Haftaufschub beantragt

Doch politisch?

Kein Untersuchungsausschuss.
Keine strukturelle Aufarbeitung.
Kein Verantwortungsbericht.

Dasselbe Land, das die Ukraine wegen Korruption rügt,
hat selbst Nullinteresse an der vollständigen Klärung eines Milliarden-Skandals, in dem Menschen, die in ihrem Leben nichts mit Masken zu tun hatten, über Nacht 48 Millionen Euro Provision einstreichen. Ging das mit rechten Dingen zu? Nicht auszuschließen. Sind wir uns da aber sicher? Ein Untersuchungsausschuss könnte Klarheit schaffen.


3. Lobbyismus in der Regierung: Der Fall Wolfram Weimer

Wie jüngst bekannt wurde, hält Wolfram Weimer, der Kulturstaatsminister in der Merz-Regierung, immer noch 50 % der Anteile an seiner Weimer Media Group, obwohl er inzwischen für die Regierung arbeitet. Rechtlich ist erst einmal nichts gegen Weimers Unternehmensbeteiligung einzuwenden. Problematisch wird es erst, wenn das Gewerbe weiter ausgeübt wird und operativen Einfluss auf Unternehmen ausübt, erklärte der Rechtswissenschaftler Michael Kubiciel gegenüber der Tagesschau.

Die Firma organisiert allerdings jedes Jahr den Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee - ein Treffen hochkarätiger Politiker mit Vertretern aus der Wirtschaft. Für die Teilnahme stehen mehrere Pakete zur Auswahl:

  • 60.000 Euro („Matterhorn“)
  • 80.000 Euro („Montblanc“)

Enthalten ist laut Werbematerial:

„Möglichkeit zur Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger“

Und:

„Executive Night mit Spitzenpolitikern in informeller Atmosphäre“

Ein Organisator warb laut SZ sogar mit der Teilnahme von Ministern.

Politisch unglaublich.
Juristisch zulässig.
Moralisch verheerend.

FDP-Chef Michael Ruoff nennt Weimer deshalb:

„Als Staatsminister untragbar.“

Merz schweigt.


4. Ein Blick auf uns selbst

Diese Liste zeigt dokumentierte Fälle von Korruption, Lobbyismus und Vetternwirtschaft in Deutschland seit 2019.

Wohlgemerkt im Vergleich zur Ukraine:

  • nicht im Krieg.
  • nicht unter Raketenbeschuss.
  • nicht in einem Staat, der ums Überleben kämpft.
  • sondern in einem der reichsten und stabilsten Länder der Welt.

Die Frage ist nicht, ob die Ukraine ein Problem hat.
Die Frage ist: Warum wir die eigenen Probleme weniger ernst nehmen.


5. Das politische Erbe: Merz, Merkel, Schröder, Kohl, Schmidt, Brandt

Friedrich Merz – Die Gegenwart

Maskendeals, Aserbaidschan-Affären, Briefkastenfirmen, jetzt der Weimer-Skandal.
Was hat Merz bisher getan, um in der eigenen Partei aufzuräumen, wo er doch gleich zum Telefon griff, um Selenskyj zu belehren?

Keine Reaktion.
Kein Kommentar.
Keine Konsequenz.


Angela Merkel – Schweigen als Regierungsstil

Unter Merkel jagte ein Skandal den anderen:

  • Amthor – Augustus Intelligence
  • Strenz – Aserbaidschan
  • Nüßlein – 660.000 € Maskendeal
  • Löbel – 250.000 € Maskendeal
  • Sauter – 1,2 Mio € Maskendeal
  • Hauptmann – Maskendeal + Aserbaidschan
  • Fischer – Aserbaidschan + Briefkastenfirma
  • Lintner – 4 Mio € Aserbaidschan

Was tat Merkel?

  • kein wirksames Lobbyregister
  • keine internen Konsequenzen
  • keine politische Aufarbeitung

Gerhard Schröder – Der moralische Absturz

Der ist privat gleich komplett ins Dunkel abgetaucht.
Seine Nähe zu Putin ist kein strafrechtlicher Fall –
aber ein moralischer und politischer Totalausfall.
Ein ehemaliger Kanzler, der sich von Gazprom und Rosneft alimentieren lässt.
Ein Fall für die Geschichtsbücher der politischen Selbstverwertung.

Ein früherer Bundeskanzler, der seine Nähe zum Kreml
als persönliches Geschäftsmodell nutzt.


Helmut Kohl – Der eigene Skandal

Kohl war nicht umgeben von Skandalen –
er war der Skandal.
Die Schwarzkonten.
Die unbekannten Spender.
Die Weigerung, sie offenzulegen.
Verantwortung übernommen?
Nein.
Bis zuletzt nicht


Helmut Schmidt – Integrität als Prinzip

Schmidt war kein Heiliger.
Aber eines blieb:
Eine harte Grenzziehung zwischen Amt und Eigeninteresse.
Korruption hätte er als politische Todsünde betrachtet.
Das lobte sogar die Konkurrenz.


Willy Brandt – Politische Verantwortung

Brandt war der Letzte, der echte politische Verantwortung zeigte:
Er trat zurück wegen Guillaume –
obwohl der Fehler nicht einmal sein eigener war.
Größe.
Die heute fast vollständig fehlt.
Wer jetzt also fordert, Selenskyj müsse zurücktreten, sollte vorher klären:
Wer bei uns jemals wegen Korruption Verantwortung übernommen hat.
Wer aufgeräumt hat – und wer nie.
Wer Transparenz verlangt – und selbst im Dunkeln sitzt.
Wer moralisiert – und wer seine eigenen Skandale begräbt.


6. Was bedeutet das?

Wer heute fordert, Selenskyj müsse zurücktreten,
sollte vorher klären:

  • Wer in Deutschland jemals wegen Korruption Verantwortung übernommen hat.
  • Wer bei uns aufräumt – und wer wegschaut.
  • Wer Transparenz verlangt – und wer keine ermöglicht.
  • Wer moralisiert – und wer seine eigenen Skandale unter Verschluss hält.

Besonders AfD und BSW,
die gern „Korruption in der Ukraine“ schreien,
dürfen ihre eigenen Skandale gern vorher mit spitzem Stift.


7. Schluss: Der Spiegel

Korruption hat viele Gesichter.
In Kyjiw.
In Berlin.
In München.
In Brüssel.

Der Unterschied ist:

Ob man sie bekämpft oder ignoriert.

Bevor wir also mit dem Finger auf ein Land zeigen, das um sein Überleben kämpft,
sollten wir vielleicht einmal sehr genau prüfen,
wie es um unseren eigenen politischen Anstand und Mut bestellt ist.


Read more