Statt Taurus: Bauanleitung für den Gamechanger
Deutschland liefert keine Taurus, aber Know-how und Geld für ukrainische Langstreckenraketen – schnell, effizient und ohne politische Fesseln. Hinter dem enttäuschenden Auftritt von Merz und Selenskyj verbirgt sich mehr, als es auf den ersten Blick scheint.

Viele waren nach dem gemeinsamen Auftritt von Friedrich Merz und Wolodymyr Selenskyj enttäuscht. Kein Taurus, keine neue Eskalationsstufe, keine große Wende – stattdessen ein jovial ernst dreinblickender Kanzler und ein dankbarer, aber sichtlich bedrückt wirkender Präsident.
Doch wer sich – wie auch ich zunächst – von dieser Enttäuschung blenden lässt, übersieht einen entscheidenden Punkt:
Deutschland liefert zwar (noch) keine Langstreckenwaffen – aber es liefert das Know-how und das Kleingeld für den Taurus Marke Eigenbau.
Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt – in der Ukraine, mit deutscher Finanzierung.
Schon in wenigen Wochen, so das Bundesverteidigungsministerium, könnten erste gemeinsam mit Deutschland beschaffte weitreichende Waffensysteme einsatzbereit sein. Sie seien bereits eingeführt und erforderten keine zusätzliche Ausbildung.
Das ist keine Ankündigung. Das ist ein Einstieg. Ein neuer Modus der Kriegsunterstützung:
Outsourcing mit Wirkung. Finanzierung statt Verantwortung. Technik ohne politische Ketten.
Deutschland hilft, Raketen zu bauen – ohne sie zu liefern.
Die Ukraine erhält ihre Reichweite. Berlin seine Distanz.
Putin kann toben – aber er kann Deutschland nicht mehr direkt verantwortlich machen. Das übernimmt nun Lawrow.
Der russische Außenminister warf Deutschland prompt „direkte Kriegsbeteiligung“ vor. Die geplante gemeinsame Entwicklung von Raketen mit der Ukraine sei der Beweis. Deutschland baue „Spannungen auf“, so Lawrow. In gewohnter Diktion hofft er, „verantwortungsvolle Politiker“ in Berlin würden „den Wahnsinn beenden“. Für Russland bedeutet jede Form ukrainischer Wehrhaftigkeit Wahnsinn – das ist der Maßstab.
Auch Kremlsprecher Peskow schob sofort nach: Die deutsche Unterstützung provoziere die Weiterführung des Krieges, verhindere den Frieden, Berlin wetteifere mit Paris um den Titel „gefährlichster Brandstifter“.
So klingen Regime, die spüren, dass ihnen etwas entgleitet.
Und das ist genau der Punkt, an dem ich persönlich – trotz aller Skepsis – zum ersten Mal einigermaßen optimistisch bin.
Nicht, weil jetzt plötzlich alles gut wird. Nicht, weil Merz zum Gamechanger geworden wäre.
Aber weil sich etwas verschiebt.
Lange war Waffenhilfe gleichbedeutend mit Scheibchen-Taktik und innenpolitisch motivierter Zögerlichkeit. Jetzt sehen wir zum ersten Mal:
Es gibt ein Projekt mit Substanz, mit Vorlauf, mit Wirkung.
Natürlich: Diese neuen Raketen sind kein Ersatz für Taurus.
Sie sind weniger präzise, vielleicht technisch unterlegen – aber sie sind verfügbar. Sie sind einsetzbar. Und sie sind erlaubt.
Denn die Frage nach der Reichweite hat Merz längst – wenn auch verklausuliert – beantwortet. Schon am Montag sagte er, es gebe „keine Reichweitenbeschränkungen mehr“.
Das klang erst nach heißer Luft – weil Deutschland offiziell keine Waffen liefert, die bis tief ins russische Territorium reichen.
Jetzt wissen wir: Er sprach nicht vom Taurus. Er sprach vom Neptun. Vom Eigenbau.
Ein modifizierter ukrainischer Seezielflugkörper, der nun Landziele erreichen kann. Made in Ukraine. Powered by Germany.
Und für diese Systeme gibt es tatsächlich keine Reichweitenbeschränkung mehr – weil sie nicht deutsch, sondern ukrainisch sind. Deutschland bezahlt, schweigt – und entzieht sich so der direkten Eskalationslogik.
Das ist perfide clever oder schlicht pragmatisch – je nach Blickwinkel.
Natürlich darf die Kritik an der deutschen Zurückhaltung deshalb nicht verstummen. CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter bringt es auf den Punkt:
„Taurus wäre 2023 hilfreich gewesen – jetzt ist es ein Symbol deutscher unterlassener Hilfeleistung.“
Die Verzögerung, die Verweigerung, das politische Lavieren – all das hat Wirkung gezeigt. Leider nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Bilanz deutscher Glaubwürdigkeit.
Umso wichtiger, dass sich nun etwas bewegt.
Und ja, auch die Taurus-Diskussion ist noch nicht vorbei.
Selenskyj selbst ließ in einem Interview mit RTL Direkt durchblicken, dass es durchaus noch Hoffnung gibt. Man habe Stillschweigen vereinbart – aber: „Wir arbeiten in diese Richtung.“ Das ist mehr als ein frommer Wunsch. Das ist diplomatisch verpackte Spannung.
Neben Raketen und Vertraulichkeit wurde übrigens auch Starlink erwähnt: Deutschland übernimmt künftig einen erheblichen Teil der Kosten für das Satellitennetzwerk. Wichtig – nicht spektakulär, aber überlebenswichtig für Kommunikation, Koordination und Resilienz.
Ebenfalls bemerkenswert: Ab Herbst sollen bilaterale deutsch-ukrainische Gespräche wieder aufgenommen werden. Warum sie auf Eis lagen, ist nicht ganz klar – vielleicht wegen der Ampel-Umstrukturierung, vielleicht, weil Merz erst eigene außenpolitische Akzente setzen wollte. Dass er sie nun betont wiederbelebt, zeigt zumindest: Er sucht eine engere, strukturelle Partnerschaft mit Kyjiw – nicht bloß ad hoc Unterstützung.
Und zum Schluss noch ein klares Wort von Merz:
Deutschland werde „alles tun, damit Nord Stream 2 nicht wieder in Betrieb genommen werden kann.“
Ein Satz, den Schlüsselfiguren aus der SPD und CDU lange nicht hören wollten – und der nun wie ein Schlussstrich klingt.
Wobei man hinzufügen muss: Nord Stream 2 war nie in Betrieb – Merz dürfte sich hier versprochen haben. Der politische Inhalt bleibt dennoch eindeutig.
Und: Es lohnt sich, bei all der Kritik an der Gegenwart nicht die Vergangenheit auszublenden.
Die jetzt angekündigte Waffenproduktion in der Ukraine hat offenbar eine längere Vorgeschichte.
Schon vor dem Regierungswechsel waren Experten aus dem Verteidigungsministerium in ukrainischen Rüstungsbetrieben unterwegs. Ohne diesen Vorlauf könnte heute kein einziges System in „wenigen Wochen“ einsatzbereit sein.
Ein Lob also an die Ampel, die das Projekt offenbar schon angestoßen hat. Und ein Lob an die neue Regierung, die es dem Anschein nach jetzt weiter forciert.
Wie die genauen Wege waren, dürften wir wohl bald schon erfahren ...
Kein Taurus. Kein Durchbruch. Aber endlich Bewegung.
So funktioniert Politik, wenn nicht jedes Parteibuch wichtiger ist als das Ziel.
So funktioniert Deutschland, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.