Warum das Ausbleiben des Desasters in Washington schon die Nachricht ist

Warum das Ausbleiben des Desasters in Washington schon die Nachricht ist

Eigentlich bin ich eher bekannt als die Meisterin des dystopischen Zweckpessimismus. Heute aber möchte ich diese Sicht einmal durchbrechen. Denn nach dem verheerenden Alaska-Gipfel hatten viele von uns das Schlimmste befürchtet – und doch sind wir nicht in einer neuen, dunkleren Welt aufgewacht.

  • Die Nato existiert noch.
  • Die Ukraine wurde nicht im Handstreich verscherbelt.
  • Selenskyj ist „heile“ aus der Nummer rausgekommen.
  • Die Europäer haben nicht nur geschleimt, sie haben auch mutig gefordert – wie unser Bundeskanzler, der zum Glück sein zügiges Einstimmen in den Alaska-Gipfel-Kanon auf glasklare, vernünftige Forderungen zurückgekommen ist.

Ja, es gab gestern jede Menge Geschleime und Inszeniere um einen Mann, der sich als den Nabel der Welt betrachtet: Donald Trump.
Aber: Trotz seines Größenwahns und seiner innigen Hingabe zu Putin hat Trump das Tischtuch nicht zerschnitten. Er hat Merz nicht in der Luft zusammengefaltet, als der einen Waffenstillstand forderte. Er hat Meloni nicht abgebügelt, als sie Sicherheitsgarantien nach Vorbild von Artikel 5 als unabkömmliche Lösung ins Spiel brachte. Er hat Stubb nicht widersprochen, als dieser daran erinnerte, dass Finnland einst zwar seine Unabhängigkeit behalten durfte, aber unter sowjetischer Knute Territorium verlor – und dass die Ukraine heute eben nicht alleinsteht.

Trotz allem hat Trump das Tischtuch nicht zerschnitten. Nicht, weil er plötzlich Respekt vor Europa entdeckt hätte. Trump ist zu sehr Egomane, um aus purer Rücksichtnahme milde zu sein. Dass er diesmal nicht zuschlug, liegt vielmehr daran, dass er ganz genau weiß, wie sehr er auf die Europäer angewiesen ist – militärisch, wirtschaftlich, symbolisch.

Ohne uns kann selbst ein US-Präsident seine Vormachtstellung in der Welt nicht aufrechterhalten. Ohne unsere Kaufkraft verliert er einen der wichtigsten Absatzmärkte – nicht zuletzt für amerikanische Rüstungsgüter. Und ohne unsere Anwesenheit am Tisch fehlt ihm die Bühne, auf der er sich als Nabel der Welt inszenieren kann.

Europa und Amerika sind wie Biene und Blüte – ein symbiotisches Verhältnis, über Jahrzehnte gewachsen. Die Blüte braucht die Biene, damit sie Frucht trägt. Die Biene braucht die Blüte, damit sie Nahrung findet. Wer die eine wegnimmt, schwächt auch die andere. Und die Frage, ist die Biene wichtiger als die Blume, ist sinnlos. Sicher ist nur: Ohne den anderen geht es nicht.

Und ehrlich gesagt, macht mich das alles etwas zuversichtlicher. Auch wenn Trump weiter mit Putin kungelt. Auch wenn Putin keinerlei Anzeichen zeigt, nachzugeben, sondern ungebrochen Härte demonstriert. Bei einem der Gespräche war gestern zwischendurch noch ein Mikrofon offen – und Trump sagte zu Macron über Putin: „Er will mir einen Deal geben. Er macht den Deal nur für mich.“ So viel zur Selbstwahrnehmung des amerikanischen Präsidenten.

Aus Moskau klingt es derweil unmissverständlich: Es wird zu einer schwerwiegenden Eskalation kommen, sollten Nato-Truppen in der Ukraine auftauchen. Punkt. Trump hingegen verkündet, Putin würde auch gegen die Sicherheitsgarantien nichts einwenden, um das nächste große trilaterale Meeting als die neue Karotte in den Wind zu hängen: Er, Selenskyj und Putin müssen sich treffen, dann wird alles gut – und am liebsten sofort. Der Kreml reagiert allerdings weniger euphorisch und kündigt lediglich an, darüber nachzudenken, beim nächsten Mal eine etwas wichtigere Delegation zu schicken als beim letzten Mal. Von einem Präsidententreffen weit und breit keine Spur. Das Rumgelüge Trumps kennen wir. Seine maßlose Selbstüberschätzung und Fehleinschätzung der Lage.

Und ja, am Ende der Gipfel-Show kam nichts Greifbares heraus – und doch waren alle irgendwie zufrieden. Selenskyj sprach vom „besten Treffen“ mit Trump, die Europäer von einem „Durchbruch“ bei Sicherheitsgarantien, Trump selbst natürlich von „sehr guten Gesprächen“. Der Kreml murrte immerhin mit der Aussicht auf weitere Gespräche, wie auch immer die aussehen.

Und – Trommelwirbel: Der siegessichere Trump hat gestern eben NICHT bekommen, was er sich so leicht vorstellte. Er hat aber auch keine Teller an die Wand geworfen. Er hat sich den Realitäten gefügt, auch wenn er gleich heute weiter mit Putin konspirieren wird.

In der Substanz sind wir gestern nicht einen Schritt weitergekommen:

  • Sicherheitsgarantien gibt’s für Trump erst nach einem Friedensschluss – wir sehen das anders.
  • Waffenstillstand ist für Trump keine Bedingung. Inzwischen sieht Selenskyj das ähnlich, wenngleich er will, dass das Töten aufhört – was wir alle unterstützen.
  • Es soll ein Trilateral geben, aber es gibt weder Termin noch Infos über das Format oder eine Zustimmung Moskaus.

Sprich: Alle hatten ihre großen Ziele für den gestrigen Gipfel, keines wurde wirklich erfüllt, aber auch keines im hohen Bogen verworfen. So konnte jeder seinen kleinen Erfolg vermelden, wobei niemand diesen grausamen Krieg damit auch nur einen Tag verkürzt hätte.

Jetzt müssten alle Beteiligten allerdings noch die geistige Transferarbeit aus dem gestrigen Treffen leisten: Die Europäer müssen die Einsicht wachsen lassen: Wir sind stark. Gemeinsam mit den USA muss auch Trump erkennen: Wir sind stärker als Russland, das längst eine Kriegswirtschaft fährt, aber international kaum Partner hat. Wir haben die Industrie, die Märkte, die Technologie, die Finanzkraft. Putin hat gegen dieses Bündnis keine Chance – es sei denn, wir selbst beginnen daran zu zweifeln.

Das klappt aber nur, wenn wir neben all unserem inzwischen perfekt inszenierten Geschleime auch weiter offen unsere Grenzen ziehen. Wenn wir Trump zeigen,

  • dass seine „tollen Deals“ mit der EU passé wären, sollte er sich lieber nach Moskau richten,
  • dass ein Amerika, das Europa wie einen Spielball behandelt, auf Dauer auch ökonomisch verlieren wird – und vom Thron des Hegemons gestoßen werden kann.

Trump versteht Macht in der Sprache von Geschäften. Dann müssen wir ihm eben vorrechnen, dass sein größter Kunde nicht in Sibirien sitzt, sondern in Europa. Und dass jede Illusion, er könne Putins Russland zum Ersatz machen, schon an den Zahlen scheitert.

Deshalb dürfen wir keinen Jota von unserem Kurs abweichen:

  • Die Ukraine und nur die Ukraine entscheidet, ob und welche Gebiete sie „opfert“. Niemand sonst.
  • Putin darf nicht weitermorden und auf eine Kapitulation hoffen. Gespräche sind erst denkbar, wenn die Waffen schweigen.
  • Die USA dürfen sich nicht erneut einen schlanken Fuß machen wie beim Budapester Memorandum. Wer Sicherheitsgarantien zusagt, muss sie auch durchsetzen.
  • Putin kann nicht unser Freund sein. Nicht heute, nicht morgen. Russland ist in der Weltgemeinschaft willkommen – aber erst, wenn es seinen eigenen Saustall ausmistet. Imperialismus und Großrussland gehören dahin, wo sie hingehören: auf den Müllhaufen der Geschichte.

Merksätze für heute:

👉 Die Gefahr liegt nicht darin, dass Trump uns verkauft. Die Gefahr liegt darin, dass wir selbst vergessen, wie stark nicht nur wir, sondern gemeinsam mit der Ukraine sind.

👉 Dass wir Erleichterung verspüren, weil nichts Schlimmeres passiert ist, darf uns nicht vergessen lassen, wie dünn das Eis bleibt.

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