Wenn Geld mehr wert ist als Menschenleben

Wenn Geld mehr wert ist als Menschenleben

Der absurde Aufschrei über Vermögen, das ohnehin weiter blockiert bleibt

Es gibt in dieser Welt kaum eine Debatte, die so systematisch verzerrt geführt wird wie die über das Völkerrecht.

Man kann einen Angriffskrieg beginnen, zwei Millionen Soldaten töten oder verstümmeln, Städte wie Mariupol oder Bachmut pulverisieren, Krankenhäuser bombardieren, Kinder deportieren, ganze Regionen in unbewohnbare Mondlandschaften verwandeln – und trotzdem bleibt der internationale Aufschrei erstaunlich kontrolliert.

Aber sobald Europa darüber nachdenkt, eingefrorene russische Staatsvermögen zur Finanzierung der ukrainischen Verteidigung zu nutzen, überschlagen sich dieselben Stimmen.
Plötzlich ist jeder Paragraf heilig, jeder Buchstabe des Völkerrechts ein Schwert, mit dem auf Brüssel eingedroschen wird.

Es entsteht der Eindruck, als sei das Bewegen von Geld eine größere Bedrohung für die Weltordnung als der größte Völkerrechtsbruch seit 1945.

Diese Moralverschiebung ist kein Zufall. Sie folgt einer einfachen Wahrheit: Kapital löst mehr Empörung aus als zerstörte Städte. Geld ist politisch gefährlicher als Tote.

Und genau hier beginnt die Heuchelei der Kritiker.

Sie warnen davor, Europa könnte „Völkerrecht verletzen“, wenn es die immobilisierten russischen Zentralbankreserven als Sicherheit für ein Reparationsdarlehen nutzt. Sie warnen, der Finanzplatz Europa könne Schaden nehmen. Sie warnen, Russland könne „verärgert“ sein, als hätte die EU bislang friedlich mit einem Partner gestritten und nicht mit einem Staat, der gerade ein Nachbarland auslöscht.

Doch all diese Kritiker verschweigen konsequent das Entscheidende:

Es handelt sich nicht um die Vermögen eines Staates, der sich rechtskonform verhält. Es handelt sich um das Vermögen eines Aggressors, der nach geltendem Kriegsfolgenrecht zur Wiedergutmachung verpflichtet ist.

Reparationen sind kein politischer Wunsch, sie sind kodifiziert. Russland ist rechtlich in der Pflicht, der Ukraine zu ersetzen, was es zerstört hat.
Kein Gericht der Welt würde Moskaus Märchen glauben, es habe „nur defensiv“ gehandelt.

Selbst die internationale Großkanzlei Covington & Burling – nicht gerade bekannt für aktivistische Rechtsauslegung – kommt zu diesem Schluss.
Damit ist die juristische Debatte entschieden.
Was bleibt, ist Rhetorik – und russische Propaganda.

Vor diesem Hintergrund ist die neue EU-Konstruktion bemerkenswert unspektakulär:

Die Union enteignet Russland nicht.
Sie greift nicht auf die 210 Milliarden Euro russischer Zentralbankreserven zu.
Sie überweist keinen einzigen Rubel an die Ukraine.

Was sie stattdessen tut, ist das juristisch sauberere – und politisch klügere:
Sie blockiert weiter. Und sie nutzt die immobilisierten Vermögen als Sicherheit für ein zinsloses Darlehen, das der Ukraine ab 2026 das Überleben ermöglichen soll.

Die Vermögen bleiben eingefroren, bleiben Russland zugeordnet, bleiben unangetastet – bis der Aggressor den Schaden ersetzt, den er angerichtet hat.

Das ist kein Völkerrechtsbruch.
Das ist die Anwendung des Völkerrechts.

Wer also behauptet, Europa greife nach „fremdem Eigentum“, übernimmt de facto die russische Argumentation: „Russland hat ein Recht auf dieses Geld – sofort, bedingungslos, unabhängig vom Kriegsverbrechen.“
Wer warnt, der Finanzplatz Europa könne leiden, sagt im Kern: „Aggressoren müssen sicher sein dürfen, dass ihre Vermögen unangetastet bleiben.“
Wer fürchtet, ein „Präzedenzfall“ könne entstehen, gesteht damit ein: „Wir schützen lieber Vermögen als Menschenleben.“

Diese Positionen sind keine juristischen, sie sind politisch.
Und sie entlarven, wie sehr die Weltordnung darauf konditioniert ist, Kapital zu schützen, selbst wenn dieses Kapital der verlängerte Arm eines Kriegsverbrecherstaates ist.


Wie das Reparationsdarlehen tatsächlich funktioniert

Europa steht vor einer simplen Zahlenkolonne:
Die Ukraine braucht in den kommenden zwei Jahren zwischen 130 und 136 Milliarden Euro, um militärisch standzuhalten.
Ab dem zweiten Quartal 2026 wäre sie ohne neue Finanzzusagen zahlungsunfähig.

Zwei klassische Optionen scheitern:

Bilaterale Hilfe – viele EU-Staaten sind haushaltspolitisch am Limit.
Gemeinsame Verschuldung – scheitert an Ungarn, der Slowakei und ab Montag auch an Tschechien. Dann tritt Andrej Babiš als neuer Ministerpräsident an. Er lehnt es ab, Garantien für die Finanzierung der Ukraine zu übernehmen, und meint, die Europäische Kommission müsse „alternative Wege“ finden. Fragt sich welche.

Also bleibt die dritte Möglichkeit:

Ein europäisches Darlehen, besichert durch eben jenes russische Vermögen, das ohnehin eingefroren ist und nur unter einer Bedingung jemals wieder freigegeben wird:
Russland muss seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllen.

Euroclear würde die immobilisierten Assets formal an die EU-Kommission übertragen – nicht zur Auszahlung, sondern zur Besicherung.
Die EU würde nicht sofort 140 Milliarden überweisen, sondern tranchenweise, abhängig vom Bedarf und der Lage in der Ukraine.
Die Vermögen blieben unangetastet.
Die Freigabe wäre an Reparationen gekoppelt.

Juristisch ist das nicht die Verletzung bestehender Regeln, sondern die Nutzung eines Raumes, den Russland selbst durch seinen Angriff geschaffen hat.

Und wer das für juristische Grauzone hält, kann im Gutachten von Covington & Burling nachlesen:
Das Klagerisiko sei „minimal“, es sei „praktisch unmöglich“ für Russland, ein internationales Gericht zur Annahme einer Klage zu bewegen.
Die Konstruktion hält.

Politisch hat die EU längst vorgesorgt:
Am 11. Dezember beschloss sie per Artikel 122 – also mit qualifizierter Mehrheit, ohne Einstimmigkeit –, die russischen Assets unbefristet zu immobilisieren.

Ungarn und die Slowakei können nicht mehr blockieren.
Europa kann handeln, wenn es will.


Natürlich gibt es Risiken.
Belgien fürchtet um seinen Finanzplatz.
Euroclear fürchtet Klagen und Reputationsschäden.
Russland droht – wie immer.
Die USA sind irritiert, weil Europa erstmals seit Jahren geopolitisch selbstständig agiert.

Aber genau das ist der Punkt.

Denn dieses Darlehen ist mehr als Geld.
Es ist ein Hebel.

Die eingefrorenen Vermögen liegen in Europa – nicht in Washington, nicht in Moskau.
Wer über Frieden verhandeln will, wer über Reparationen sprechen will, wer diese 210 Milliarden Euro irgendwann nutzen will, muss mit Brüssel reden.

Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges hat Europa etwas in der Hand, das beide Seiten brauchen.
Trump kann nicht allein mit Putin über die Zukunft der Ukraine entscheiden – nicht, solange das Geld hier liegt.

Das ist keine Begleitmusik.
Das ist Machtpolitik.

Wer also jetzt „Völkerrecht!“ ruft, sollte sich fragen lassen, warum er diese Vehemenz nicht aufbringt, wenn Russland Krankenhäuser bombardiert.
Warum Kapital schützenswerter ist als Menschen.
Warum die Vermögen einer Zentralbank wichtiger sind als das Überleben eines Landes.

Europa muss sich entscheiden, ob es Zuschauer bleibt – oder Akteur wird.
Ob es die Ukraine weiter finanziert – oder sich selbst endgültig aus jeder künftigen Verhandlung verabschiedet.
Ob es das Völkerrecht verteidigt – oder die Konten dessen, der es gebrochen hat.

Denn am Ende geht es nicht um russisches Geld.
Es geht darum, ob Europa bereit ist, Verantwortung zu übernehmen – oder ob es weiter zusieht, wie ein Kriegsverbrecherstaat die Regeln diktiert.

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