Der Macher und die Zauderer

Der Macher und die Zauderer

Oder: der Gipfel der Sensiblen

Man möchte sich wünschen, dass den Teilnehmern des königlichen Dinners gestern der ein oder andere Bissen vor lauter Sorgen gar nicht so recht mundete. Denn zu feiern hatte das Verteidigungsbündnis wenig.

Die NATO hatte seit 2014 keine Strategie. Es war schlicht nicht ihr Thema.
Doch auch nach dem 24. Februar 2022 blieb sie strategielos, obwohl sie von Putin als Hauptgegner benannt und ihre Mitgliedsstaaten mehrfach atomar bedroht wurden.

Nach Kriegsausbruch war allerdings für einen kurzen Moment so etwas wie gemeinsame Entschlossenheit spürbar. Europa schien bereit, es Putin zu zeigen. Heute ist diese Energie verflogen.

Und so tafelte die NATO gestern beim König der Niederlande, um jenen Mann zu umgarnen und bei Laune zu halten, der sie seit Jahren aufmischt. Der russische Elefant wurde erst gar nicht in den Raum gelassen, auch wenn Selenskyj immerhin sein güldenes Stühlchen und Tellerchen bekam.

5 Prozent – weil Trump es so will

Trump nimmt das Bündnis derzeit in zweifacher Hinsicht in den Schwitzkasten:
Kaum haben die letzten Staaten mühsam das Zwei-Prozent-Ziel erreicht, verlangt er bis 2035 nun fünf Prozent des BIP für Verteidigung. Er wird sich durchsetzen. Spanien und die Slowakei maulen noch, doch Ausnahmen soll es nicht geben. Nur den Austritt. Und den wird sich jeder Sparfuchs zweimal überlegen.

Heute also werden die 32 NATO-Staaten in Den Haag die größte Aufrüstung seit dem Kalten Krieg beschließen.
Sie folgt keiner realistischen Einschätzung, sondern der Laune eines US-Präsidenten, der einfach nur provozieren wollte.
Er hätte auch 4,5 oder 7 Prozent sagen können. Einen militärischen Zwang zur Zahl fünf gibt es nicht.

Doch der Widerstand blieb aus. Im Gegenteil. So schnell hat die NATO selten einen Konsens gefunden.
Denn anders als Trump besitzen die reichen wie armen Europäer keinerlei eigene strategische Kraft:
Weder, um sich dem „Anführer“ zu widersetzen, noch, um auf die eskalierenden Krisen der Welt mit eigener Linie zu reagieren.

Also wird gespurt.
Merz verkauft uns die neue Vorgabe als unsere eigene Einsicht.
Warum dann nicht gleich sieben Prozent? Klingt doch irgendwo noch sicherer.

Die Ukraine als Fußnote

Trump hat das Bündnis zudem dazu gebracht, die Ukraine zur Randnotiz zu degradieren.
Selenskyj durfte auf persönliche Einladung des niederländischen Königs am Bankett teilnehmen, nicht weil er dazugehören würde. Immerhin wurde er wie immer von Macron, von der Leyen und Rutte geherzt und gelobt.
Heute darf er um 13 Uhr 30 zum Vieraugengespräch mit Trump antreten. Doch alles deutet darauf hin, dass er eine weitere Abfuhr erhält.

Der US-Präsident wird ihm in eindrücklichen Worten nahelegen, zu kapitulieren.
Eine andere Strategie hat er bisher nie formuliert.
Im Gegenteil. Seine Worte klangen stets wie Putins: Die USA könnten die Krim und die besetzten Gebiete als russisch anerkennen.
Selenskyj habe keine Karten in der Hand. Er hätte vorher wissen müssen, dass man keinen Krieg gegen einen übermächtigen Gegner "beginnt".

Und: Er solle aufhören, wegen seines „unbedeutenden Landes“ den Dritten Weltkrieg zu riskieren.

Der Ehrliche ist der Brutalste

Trump wird dafür kritisiert.
Der Unterschied zu uns Europäern aber ist: Er ist mit seiner prorussischen Haltung immerhin ehrlich.
Wir sind es nicht.

Würde es nach uns gehen, wünschten wir uns nämlich einen starken Mann in Washington.
Wie der agieren könnte, wollen wir aber lieber nicht wissen. Zu groß ist die Angst.
Ganz oben steht die Furcht vor der Atombombe. Erst weit dahinter folgt für uns Bedenkenträger die Tatsache, dass Russland im vierten Jahr des Krieges jede Norm des Völkerrechts bereits gebrochen hat.

Unsere Hilfe diente aus Eskalationsangst daher bisher lediglich dem Überleben der Ukraine.
Nicht ihrer Befreiung. Nicht der Beendigung der Aggression. Und es gibt bis heute keine klar formulierte Strategie dazu.

Der Iran-Schlag als bitteres Vorbild?

Dass Trump am Wochenende mit konventioneller Brachialgewalt iranische Atomanlagen angegriffen hat, galt vielen als völkerrechtswidrig, als Eskalation, als potenzieller Startschuss für den dritten Weltkrieg.
Doch, ein Wunder, der blieb aus.

Ob der Angriff das Ziel erreichte, ist noch offen. Sicher ist nur: Der Schlag saß.
Für den Nahen Osten war es wie ein Karnickelfangschlag. Für die Friedens-verliebten Europäer eine schmerzende Kopfnuss.

Manch Trump-kritischer Journalist fragt sich inzwischen laut, ob man mit einem kurzen, brutalen Schnitt nicht doch mehr erreicht als mit jahrelangem Debattieren.
Zwar weiß niemand, wo das Uran der Iraner jetzt lagert. Möglicherweise hat der Schlag unterm Strich wenig gebracht. Auch die Waffenruhe ist fragil. Das Atomprogramm sei laut neuester Geheimdienstberichte nur um wenige Monate zurückgeworfen.
Und doch: Vorerst herrscht Ruhe von Seiten Irans und seiner Proxys. Das wäre sicherlich auch so, hätte der Iran das Uran nicht vor dem Schlag beiseite geschafft.

Trump hat eskaliert, um zu deeskalieren. Und ist fein raus. So oder so.

Denn seine Botschaft ist angekommen: Wer Gewalt sät oder Israels Auslöschung androht, bekommt die Rechnung. Und zwar heftig.
Und die anderen Großmächte? Sind handzahm. China und Russland drohten nicht einmal, sondern bemühten das Völkerrecht - ganz wie bei uns.

Europa – hübsch fürs Familienfoto

Ist Abschreckung durch Eskalation vielleicht doch nicht so verkehrt?
Europa duckt sich in der Frage lieber unter die königliche Tafel. Man kämmt sich lieber noch einmal flott durchs Haupthaar, um auf dem Familienfoto hübsch wählbar dreinzuschauen. Das war's dann.

Dabei könnte man auch die Frage stellen:

Ist eine kurze und brutale Eskalation vielleicht doch ein Weg zur Deeskalation?

Keine Strategie – kein Rückgrat

Mit Blick auf die Ukraine zeigt sich aber: Hierfür ist Trump zu keinem Risiko bereit.
Israel ist seinen Wählern einfach näher. Die Idee, dass die Europäer sich gefälligst selbst kümmern sollen, ist in den USA fest in den Köpfen verankert.

Uns selbst kümmern? So richtig? Das wollen wir aber nicht.
Wir schaffen es ja nicht einmal, eine gemeinsame Strategie zu formulieren.

Während Trump sagt:

„Iran cannot have a nuclear weapon.“

… gilt bei uns noch der abgewählte Scholz-Ausspruch:

„Die Ukraine darf nicht verlieren. Russland darf nicht gewinnen.“

Dahinter immer der Wunsch, Putin unbedingt eine gesichtswahrende Exit-Strategie zu verschaffen.

5 Prozent Angstmasse

Was bringen uns fünf Prozent Verteidigungsausgaben, wenn wir die Waffen aus Angst vor Putin eh nie einsetzen würden? Pure Abschreckung? Und was, wenn der russische Stiefel doch ins Baltikum tritt?
Wenn wir zögern, bis es zu spät ist? Wenn die Ukraine wie in Masalas Szenario 'Wenn Russland gewinnt' durch unsere Angst verliert?

Diese NATO ist derzeit nicht willens, jeden Quadratmeter zu verteidigen.
Wäre sie es, müsste sie alles dafür tun, dass die Ukraine siegt, um jeden Quadratmeter NATO zu verteidigen, denn russische Stiefel auf egal welchem Territorium schaffen für Putin Fakten.

Wer Russland heute gewähren lässt, kann morgen einen Angriff auf NATO-Gebiet nicht besser abwehren. Im Gegenteil.
Artikel 5 hilft nur, wenn er ernst gemeint ist.
Und wer will schon für eine baltische Kleinstadt den Dritten Weltkrieg riskieren?

Deshalb darf Russland das Baltikum niemals erreichen. Nur ein ukrainischer Sieg sendet die Botschaft: Schluss mit den Spielchen.
Die Ukraine ist unser Bollwerk, das wir mit aller Macht stärken sollten. Unsere Angst vor Atomdrohungen sollten wir hingegen mal vom Psychologen untersuchen lassen oder eine Therapie anfangen. Denn so mörderisch Russland auch agiert: Es will keinen Selbstmord. Auch Putins Logik lautet: Erstschlag = Zweitschlag. Da gibt es kein Vertun, und zwar in beide Richtungen.

Es reicht. Wir müssen springen.

Europa muss Putin die Stirn bieten. Damit auch die Russen endlich zucken. Dafür braucht es keine Atombomben. Es reicht, wenn wir erst einmal aufhören, jede aussichtsreiche Strategie schon im Vorfeld als Eskalation zu verteufeln. Wenn wir aufhören, dem US-Präsidenten hinterherzulaufen, der keinen Bock auf die Ukraine hat. Da ihm die Ukraine egal ist, müssen wir es selbst tun. Zur Not auch gegen den Willen des großen Bruders. Sollte uns Putin wirklich angreifen - die USA wären am Ende sicher genauso zur Stelle wie einem Netanyahu, der alle Anweisungen Trumps überhört hat.

Europa muss springen, bevor es zu spät ist, und auch was wagen. Dazu braucht es Klartext vom Kanzler. Von allen. Ohne Beschönigung. Denn wir brauchen eine Gesellschaft, die bereit ist, diesen Weg zu gehen, die einsieht, dass wir ansonsten immer den Kürzeren ziehen.

Doch das Gegenteil passiert:
Pistorius wird für das Wort „kriegstüchtig“ immer noch abgestraft, während die Propaganda unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit weiter durchs Land zieht. Solange wir keine Wege finden, etwa Blättern wie Compact Einhalt zu gebieten, verändert sich nichts.
Weder die Bereitschaft. Noch die Resilienz.
Wenn das rechtlich unmöglich ist, muss der Gesetzgeber das Recht eben überarbeiten.

Es muss sich hier grundlegend etwas ändern.


Die eigentliche Zumutung

Vielleicht liegt genau darin die eigentliche Zumutung dieses NATO-Gipfels:

Dass ausgerechnet Trump – der Zerstörer des Völkerrechts, der kalkulierte Egomane – uns zeigt, was Handlungsfähigkeit bedeuten kann.

Es ist ein bitteres Vorbild, ja.
Eines, das uns gegen den Strich geht.
Und doch bleibt die unbequeme Frage:

Was, wenn er am Ende recht hat – nicht im Ziel, aber im Prinzip?
Was, wenn nicht das Reden, sondern das Handeln Frieden erzwingt?

Wir sollten es vielleicht mal ausprobieren. Nur ein klitzekleines Bisschen.

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