Die Syrien-Lüge
Was Merz und Dobrindt uns über Abschiebungen verschweigen
Die Union regiert – und verspricht Massenabschiebungen nach Syrien, die weder rechtlich möglich noch praktisch umsetzbar sind. Hinter der Rhetorik von „Konsequenz“ und „Rückführung“ steht ein Rechenfehler, ein Geschichtsmythos und ein gefährlicher Selbstbetrug, der am Ende nur einer Partei nützt: der AfD.
„Wir schieben ab, wir müssen abschieben“, sagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann im Bericht aus Berlin – mit jener Schärfe, die inzwischen zum Soundtrack der neuen Union geworden ist.
„Alles weitere, sobald es rechtlich möglich ist, werden wir auch angehen.“
Und dann der entscheidende Satz:
„Wer soll denn das Land wieder aufbauen in Syrien, das müssen doch die Menschen machen, die vor Ort sind und diejenigen, die hier sind und dann zurückmüssen.“
„Wir müssen nach Syrien abschieben“, darin sind sich alle einig, betont Generalsekretär Carsten #Linnemann bei Bericht aus Berlin. „Wer soll denn sonst das Land wieder aufbauen?“ pic.twitter.com/YqPxtzi9YR
— CDU Deutschlands (@CDU) November 2, 2025
Die hier sind und dann zurückmüssen.
Nicht: Straftäter. Nicht: Einzelne.
Sondern: Die hier sind.
Das ist die Rhetorik einer Regierung, die entweder bewusst lügt oder von rechtsstaatsfreien Zuständen à la Trump träumt, wo vermummte ICE-Agenten mitten am Tag im grellen Sonnenlicht Menschen von der Straße holen.
Die Panik der neuen Union
Die Union regiert jetzt. Sie muss liefern – und die Panik ist greifbar.
In den Umfragen liegt die CDU inzwischen hinter der AfD.
Also fischt man verzweifelt ganz rechts, mit Versprechungen, von denen man genau weiß, dass sie nicht umsetzbar sind.
Niemand – und ich betone: auch ich nicht – will Straftäter im Land halten.
Aber für alle anderen gibt es eine Realität, der wir uns stellen müssen.
Und diese Realität hat Daniel Thym, Migrationsexperte der Universität Konstanz, im Podcast von @Ronzheimer am 5. November 2025 präzise seziert.
41 Minuten, die jeder hören sollte, der verstehen will, warum die Abschiebungsdebatte eine Phantomdebatte ist.
Die Mathematik der Illusion
Was bedeutet Linnemanns „alles weitere“ konkret?
Wenn man die aufgeheizte Debatte verfolgt, schwebt als Wunschszenario derer, die am lautesten nach „konsequenter Rückführung“ rufen, im Raum: Zehntausende pro Jahr, am liebsten alle auf einmal weg.
Rechnen wir es durch: Deutschland hat 250 Werktage.
Selbst wenn jeden einzelnen Werktag ein Charterflieger mit 50 Personen abheben würde – und das ist bereits ein absurdes Szenario – kämen wir auf 12.000 bis 13.000 Abschiebungen jährlich.
Das sind 2–3 Prozent aller in Deutschland lebenden Syrer.
Die in der Debatte kursierenden Größenordnungen von 30.000–40.000? Mathematisch unmöglich.
Und selbst die theoretischen 12.000–13.000 sind Fantasiezahlen, weil zwischen Regierungsrhetorik und rechtlicher Umsetzung ein Abgrund liegt.
„Sobald rechtlich möglich“ – was heißt das eigentlich?
„Sobald es rechtlich möglich ist“, sagt Linnemann.
Schauen wir mal ins Gesetzbuch. Was müsste die Union konkret ändern, um ihre Abschiebungsfantasien umzusetzen?
- Grundgesetz, Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 16a (Asylrecht) – dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Hat die Union nicht. Außer mit der AfD.
- Europäische Menschenrechtskonvention Artikel 3 (Verbot unmenschlicher Behandlung) – gilt über nationalem Recht.
- EU-Asylrecht: 300 Seiten, acht Jahre Verhandlung. Änderungen? Jahre neuer Verhandlungen mit allen EU-Staaten.
Die Union müsste also entweder mit der AfD das Grundgesetz ändern (und dann immer noch gegen EU-Recht verstoßen) oder auf EU-Ebene jahrelang verhandeln.
„Sobald rechtlich möglich“ heißt übersetzt: nie. Oder: nur im Unrechtsstaat.
Ja, Innenminister Dobrindt testet bereits mit Grenzkontrollen die Grenzen des EU-Rechts.
Aber Abschiebungen sind keine Grenzkontrollen.
Hier greifen Grundrechte, Menschenrechte, Verfahrensrechte.
Hier kann man nicht einfach Fakten schaffen.
Der Deutschland-Mythos
Dazu fällt mir noch dieser Satz ein, der gerade die Runde macht, dass schließlich die Syrer bitteschön ihr Land wieder aufbauen sollen, wer denn sonst:
„Deutschland wurde schließlich auch von den Deutschen wieder aufgebaut.“
Das ist historischer Unsinn – und politisch brandgefährlich, weil er Geschichtsklitterung als Realpolitik verkauft.
Der Marshallplan brachte 1,4 Milliarden Dollar (heute etwa 17 Milliarden Euro).
Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, Türkei und Spanien halfen beim Wiederaufbau.
Die Trümmerfrauen-Geschichte ist ein überhöhter Mythos.
Deutschland hatte einen durchdachten internationalen Plan mit massiver Finanzhilfe.
Syrien hat: keine internationale Aufbauhilfe, Sanktionen, zerstörte Infrastruktur, keine funktionierende Verwaltung.
Wer ernsthaft glaubt, man könne Hunderttausende einfach zurückschicken zum „Aufbauen“, hat entweder keine Ahnung von Geschichte oder lügt bewusst.
Die 600.000, die garantiert bleiben
Thym rechnet weiter:
Von 900.000 Syrern in Deutschland haben bereits 200.000 den deutschen Pass.
Weitere 200.000–250.000 arbeiten als Fachkräfte und können auf Wirtschaftsmigrantenstatus wechseln.
Dazu Familien mit in Deutschland geborenen Kindern, die automatisch Deutsche sind.
Thyms Rechnung: Mindestens 600.000 Syrer bleiben garantiert.
Bleiben theoretisch 300.000 für Schutzstatus-Entzug.
Theoretisch.
Denn jetzt kommt die Bürokratie:
Einzelfallprüfung durch das BAMF (drei bis fünf Monate), dann Klageverfahren (durchschnittlich anderthalb Jahre bei 180.000 anhängigen Klagen).
Und am Ende entscheiden Gerichte nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention:
Bei extremer Armut, bei fehlender Grundversorgung, gibt es Abschiebeverbot.
Das Verwaltungsgericht Köln hat am 4. September 2025 genau das bestätigt.
Thyms realistische Prognose:
„Mich würde es wundern, wenn in den nächsten zwei Jahren mehr als 10.000 Leute nach Syrien abgeschoben werden.“
10.000 in zwei Jahren – nicht Zehntausende pro Jahr, wie es in der aufgeheizten Debatte schwebt.
Die Integration, die verschwiegen wird
Von 290.000 Einbürgerungen 2024 waren 80.000 Syrer.
7.000 syrische Ärztinnen und Ärzte arbeiten in Deutschland.
80.000 Syrer in Engpassberufen – Pflege, Elektrotechnik, Altenpflege.
Über 30 Prozent aller Syrer mit erfolgreichen Integrationsgeschichten.
Die Merz-Regierung hat entschieden:
Man spricht nur über Abschiebungen. Nicht über Integration.
Denn Integration passt nicht ins Narrativ, wenn man rechts der AfD fischen will.
Stattdessesn wurde am wichtigsten gestrichen, der Sprache
Während Linnemann über Rückführungen spricht, streicht seine Regierung die Sprache. Ein Punkt, den ich persönlich für brandgefährlich halte:
Im Zuge der Haushaltsberatungen Anfang 2025 wurden die Mittel für Berufssprachkurse drastisch gekürzt.
Was das heißt konkret?
Die Integrationskurse (Zielniveau B1) sind von den Kürzungen nicht in gleicher Weise betroffen; ihre Finanzierung wurde nach intensiven Debatten vorerst gesichert – auch wenn die langfristige Planung unsicher bleibt.
Die Berufssprachkurse (BSK) aber, die auf den Integrationskurs aufbauen bzw. gezielt berufsbezogene Deutschkenntnisse vermitteln sollen, sind jedoch massiv betroffen.
Kurse mit den Zielsprachniveaus A2 und B1 wurden ausgesetzt und werden bis auf Weiteres nicht mehr regulär angeboten.
C1- und C2-Kurse? Ebenfalls gestrichen. Ein Irrsinn: Da draußen gibt es jede Menge Akademiker, die wir händeringend brauchen, aber nur, wenn sie auch die Feinheiten der deutschen Sprache beherrschen.Übrig bleibt das absolute Minimum – B2. Und sogenannte „Job-BSK“ mit rund 150 Unterrichtseinheiten – früher waren es 300-400 Stunden.
In Bremen, schätzt man, decken die verbliebenen Plätze gerade einmal 10 bis 20 Prozent des Bedarfs.
Träger, Bildungsverbände und Kammern schlagen Alarm:
Die Sprachförderung, die eigentlich Integration sichern soll, wird auf Diät gesetzt – mitten in einer Zeit, in der Arbeitskräfte überall fehlen.
Das Ergebnis:
Wer das B2-Niveau (noch) nicht erreicht hat, bleibt hängen.
Wer C1 oder C2 für den Beruf braucht – Ärztinnen, Ingenieure, Pflegekräfte – fällt durchs Raster.
Man spart also ausgerechnet dort, wo Integration gelingt – im Sprachraum, im Arbeitsmarkt, im Alltag. Und das, während dieselbe Regierung von „Rückführungen“ und „Pflichten“ spricht.
Der Meloni-Test
Besonders aufschlussreich:
Selbst Giorgia Meloni, rechtspopulistische Regierungschefin Italiens, schafft keine Massenabschiebungen.
Die Asylzentren in Albanien funktionieren nicht.
Thyms Schlussfolgerung:
„Die AfD, selbst wenn sie regierte, die kann viel versprechen. Aber Umsetzung würde extrem schwierig werden, auch für die AfD.“
Das ist die bittere Wahrheit für die Union:
Selbst Rechtspopulisten scheitern am Rechtsstaat.
Aber die AfD kann weiter versprechen, ohne liefern zu müssen.
Die Union muss jetzt liefern. Und sie wird scheitern.
Was Thym sich wünschen würde
Einen vernünftigen Plan statt Hysterie.
Realistische Zahlen für Abschiebungen.
Förderung freiwilliger Ausreise.
Und – das ist entscheidend – eine klare Ansage, welche Syrer dauerhaft bleiben dürfen.
„Das wird dann rein zahlenmäßig die Mehrheit sein.“
Pragmatismus statt Maximalforderungen.
Stattdessen weckt Merz Erwartungen, die nicht erfüllbar sind.
Linnemann geifert von „alles weitere“.
Dobrindt verspricht „konsequente Abschiebungen“.
Warum?
Weil die Union in Umfragen verliert.
Weil man verzweifelt rechts fischt.
Weil man hofft, dass die Wähler das Scheitern verzeihen, wenn man nur laut genug verspricht.
Die gefährlichste Lüge
Die gefährlichste Lüge ist die, die von ganz oben kommt.
Aus dem Kanzleramt.
Mit Schaum vor dem Mund.
Und dem Wissen, dass es nicht funktionieren wird.
Was passiert, wenn in zwei Jahren nicht Zehntausende abgeschoben wurden, sondern 10.000?
Wenn die Bevölkerung merkt, dass man belogen wurde?
Dann profitiert die AfD.
Denn die sitzt lächelnd am Spielfeldrand und sagt:
„Seht ihr, selbst wenn die Union regiert, können sie es nicht. Wählt uns.“
Die Union füttert durch ihre Lügen genau die Partei, die sie angeblich bekämpfen will.
Merz und Dobrindt wissen, dass ihre Versprechen nicht haltbar sind.
Sie machen sie trotzdem.
Das ist nicht nur unredlich. Das ist gefährlich.
Die Syrien-Lüge wird nicht die AfD schwächen, sondern sie zur Nutznießerin der enttäuschten Erwartungen machen.
Und das wissen Merz und Dobrindt – sie tun es trotzdem.