Europa im Schachmatt: Warum der Westen seine eigene Sicherheit verspielt

Europa im Schachmatt: Warum der Westen seine eigene Sicherheit verspielt

Manchmal schafft es ein Podcast, in einer Stunde mehr Realismus zu liefern als Monate politischer Gipfeldiplomatie. So geschehen bei @Ronzheimer im Gespräch mit Claudia Major. Wer verstehen will, wie es wirklich um die Sicherheit Europas steht, sollte weniger auf die Bühnen in Washington oder Berlin schauen – und mehr auf dieses Gespräch hören.

Hier mein Versuch, das Ganze zu entwirren und die Brisanz der Situation klarzumachen bzw. auch für euch mit eigenen Gedanken einzuordnen.

Der sicherheitspolitische Offenbarungseid
Der Status quo ist ein sicherheitspolitischer Offenbarungseid. Die Ukraine kämpft seit dreieinhalb Jahren ums Überleben und fordert, was selbstverständlich sein sollte: verlässliche Sicherheitsgarantien. Doch statt Klarheit gibt es aus dem Westen nur vorsichtiges Herantasten – immer mit Blick darauf, Russland nicht zu verärgern.

Und genau da liegt das Absurde: Der Aggressor beansprucht das Mitspracherecht über die Sicherheit seines Opfers. Moskau stellt „Forderungen" – mal heißt es NATO-Erweiterung, mal angebliche Nazis in Kyjiw, mal die angeblich gequälte russischsprachige Bevölkerung. Alles vorgeschobene Vorwände, deren einziger Zweck es ist, den Westen in Schach zu halten.

Das Ergebnis: Ein grotesker Rollentausch. Russland zerstört, mordet, besetzt – und diktiert gleichzeitig die Bedingungen, unter denen die Ukraine überhaupt geschützt werden darf. Und der Westen macht mit.

Das Grundproblem: Europa hat mental abgerüstet
Bevor wir konkret über Truppenstärken und Waffensysteme aus dem Podcast reden, möchte ich allerdings einen blinden Fleck benennen, der alles weitere eigentlich entscheidet: die geistige Abrüstung unserer Gesellschaften. Wir reden über „Garantien" und „Abschreckung", aber solange die eigenen Bevölkerungen glauben, Krieg sei etwas für Netflix-Dokus und nicht für ihre Kinder, ist jede Strategie nur eine Schimäre.

Europas Bevölkerungen leben im Friedenstraum: Nie wieder Krieg, nie wieder Wehrpflicht, Wohlstand ohne Risiko. Putin hat diesen Traum für die Ukraine längst zerschlagen. Aber wir tun so, als bliebe unser „geschütztes Europa" unangetastet.

Genau darauf setzt Russland: dass wir innerlich unvorbereitet sind und den Ernst der Lage verdrängen. Doch Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Wer nicht begreift, dass Freiheit verteidigt werden muss – mit Geld, Härte, und im Zweifel auch mit dem eigenen Einsatz – der überlässt das Spielfeld jenen, die bereit sind, Gewalt einzusetzen.

Die Strategie-Lücke: Bluff-and-Pray
Damit stehen wir vor dem eigentlichen Problem: Es gibt bis heute keine klare westliche Strategie. Man hat jahrelang gehofft, sich durchwursteln zu können – ein paar Waffenlieferungen hier, ein paar diplomatische Formeln dort –, doch ohne verbindliches Mandat für die Sicherheit der Ukraine.

Das Scheitern beginnt schon bei der Begrifflichkeit. Claudia Major betont zu Recht: Man muss erstmal klären, wovon wir überhaupt reden. Sicherheitsunterstützung, Sicherheitszusagen, Sicherheitsgarantien – das sind drei verschiedene Kategorien. In der aktuellen Debatte werden die Begriffe wild durcheinandergeworfen, was das Risiko der Täuschung erhöht: Erwartung und Realität klaffen auseinander.

Russland hat das genutzt: Jede westliche Zurückhaltung war für den Kreml ein Signal, dass seine Drohungen wirken. „Bluff-and-Pray" hat Major das genannt – und genau das ist es: ein Hoffen ohne Fundament.

Die brutalen Zahlen
Die Realität ist ernüchternd: Wenn Russland 600–700.000 Soldaten an der Grenze halten kann, bräuchte man allein für glaubwürdige Abschreckung mindestens 150.000. Die Europäer bringen aber maximal 10–20.000 zusammen.

Dazu kommt die Abhängigkeit von den USA. Ohne amerikanische Aufklärung, Luftraumüberwachung und Abstandswaffen ist Europa nicht in der Lage, eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen. Jeder weiß das – und trotzdem wird so getan, als könnten Briten, Franzosen oder Deutsche eine „Koalition der Willigen" allein stemmen.

Europa selbst ist gespalten. Die meisten europäischen Truppen sind längst fest in NATO-Verteidigungspläne eingebunden. Wer sie in die Ukraine schickt, schwächt die NATO selbst – ein Zielkonflikt, der bisher kaum diskutiert wird.

Soweit die Analyse im Podcast. Doch was heißt das konkret für uns – jenseits der nüchternen Begrifflichkeiten - und was ist jetzt zu tun?

Putins wahre Strategie: Den Westen schachmatt setzen
Putin spielt nicht Schach gegen Selenskyj, sondern gegen die NATO – und hat dabei bessere Karten als wir wahrhaben wollen.
Russlands Hebelwirkung liegt nicht nur in seiner Militärmacht, sondern in der politischen Asymmetrie: Moskau zwingt den Westen, auf seine Bedingungen zu reagieren, statt eigene Strategien zu setzen. Putins Ziel ist nicht bloß die Ukraine, sondern die Demontage des Westens als verlässliches Sicherheitsbündnis.

Spaltung: Russland arbeitet systematisch darauf hin, NATO und EU auseinanderzutreiben – und findet in Trump einen unfreiwilligen Helfer. Während die Europäer über Truppenstärken streiten, stellt Trump die Existenzgrundlage des Bündnisses infrage.

Schachmatt-Position: Der Westen steckt in einer Zwickmühle: Entweder er schwächt die NATO-Verteidigungsplanung, um die Ukraine abzusichern – oder er lässt die Ukraine im Regen stehen und riskiert einen Folgekrieg, den Russland jederzeit wieder lostreten kann.

Das Glaubwürdigkeits-Dilemma
Die Gretchenfrage lautet: Was würde Russland wirklich abschrecken?

Seit 2022 hat Moskau jeden direkten Konflikt mit der NATO vermieden – die nukleare Abschreckung funktioniert also. Aber genau darin steckt das Dilemma: Wie soll Russland glauben, dass Europa plötzlich bereit ist, für die Ukraine zu kämpfen, wenn man drei Jahre lang alles getan hat, um genau das zu vermeiden?

Wie soll Kyjiw Vertrauen haben, wenn es nicht die NATO-Mitgliedschaft bekommt – die einzig wirklich belastbare Garantie –, sondern nur ein „Koalition der Willigen"-Light-Paket?

Das Risiko ist klar: Ein paar tausend westliche Soldaten in der Ukraine, ohne klare Einsatzregeln, ohne Artikel-5-Rückendeckung – das schreckt niemanden ab. Es schafft eher das nächste Glaubwürdigkeitsproblem: Was passiert, wenn russische Raketen auf deutsche Soldaten treffen? Zurückschießen – oder den Kopf einziehen?

Ein halbgarer Schutz ist schlimmer als gar keiner.
Weil er Illusionen weckt. Weil er Kyjiw in falscher Sicherheit wiegt und Moskau geradezu einlädt, die rote Linie zu testen. Ein paar tausend westliche Soldaten ohne klaren Auftrag schrecken nicht ab – sie provozieren.

Was jetzt zu tun ist
Angesichts eines unberechenbaren Trump und eines aggressiven Putin bleiben in meinen Augen nur drei realistische Optionen:

1. Europäische Eigenmacht aufbauen – nicht auf Trump setzen, sondern über Republikaner im Kongress, Pentagon und Sicherheitsapparat die institutionelle Rückversicherung sichern. Parallel: Rüstungsindustrie auf Kriegsmodus, gemeinsame Beschaffung, strategische Autonomie. Das dauert Jahre, aber es wäre der einzige Weg, das strukturelle Machtgefälle zu ändern.

2. Hybride Sicherheitsgarantie jetzt – gestaffelte Sicherungssysteme mit begrenzter westlicher Präsenz (Ausbilder, Logistik, Cyber, Raketenabwehr), kombiniert mit massiver Industriehilfe. Politische Klarheit: Kein „Bluff-and-Pray", sondern klar kommunizieren, wo die rote Linie liegt.

3. Konfrontation einkalkulieren – langfristig führt kein Weg daran vorbei, Russland klarzumachen: Ein neuer Angriff auf die Ukraine heißt Konflikt mit uns. Das ist hart, aber alles andere lädt Putin zum nächsten Versuch ein.

Die gefährliche Illusion der Beschwichtigung
Und falls wir wirklich auf jene Stimmen hören würden, die meinen, Russland müsse man einfach „entgegenkommen" – indem man ihm die besetzten Gebiete überlässt, die Ukraine in den russischen Einflussraum abtritt und danach wieder „volle Kanne" Handel treibt, als wäre nichts gewesen?
Dann hieße das nichts anderes, als dass Aggression belohnt wird. Der nächste Angriff käme sicher – vielleicht auf Moldau, vielleicht auf die baltischen Staaten, vielleicht direkt auf Polen.

Wer so denkt, müsste das Ganze zu Ende denken: Nicht nur die Ukraine aufgeben, sondern am besten gleich die NATO-Osterweiterung rückabwickeln. Zurück in die Yalta-Logik von 1945. Aber wer so denkt, kapituliert nicht nur vor einem Aggressor – er sägt die Grundpfeiler der europäischen Sicherheit gleich mit ab.

Fazit und To-do-Liste: Aufwachen und loslegen
Genau das ist die Falle, in die wir gerade tappen. Putins Panzer haben die Ukraine überrollt, doch sein eigentliches Ziel ist unsere Bequemlichkeit. Während wir noch über Beschwichtigung diskutieren, schafft er Fakten. Und solange wir weiter verharren, sind wir schon geschlagen – bevor der erste Schuss in Europa fällt.

Am Ende ist es ein dreifacher Schlag: Putin, der mit Gewalt Fakten schafft. Trump, der mit Zynismus das Bündnis zerreißt und auf eine „Friedens“-Kapitulationzusteuert. Und wir Europäer selbst, die uns in den Friedensträumen unserer Großeltern eingerichtet haben.

Was bleibt? Drei Schritte, wenn wir aus dem Schachmatt herauskommen wollen:

1. Soforthilfe für Kyjiw – Munition, Luftabwehr, Langstreckenwaffen (JA AUCH TAURUS) und ein Finanzpaket (DAS EINGEFRORENE RUSSISCHE VERMÖGEN), jetzt und nicht in Trippelschritten.

2. Trump ausmanövrieren, damit er die Ukraine nicht geradewegs in einen Diktatfrieden reinsteuert: über Kongress, Pentagon und eine europäische Kerngruppe, nicht über seine Launen im Weißen Haus.

3. Und schließlich europäische Eigenmacht – Rüstung hochfahren, strategische Autonomie aufbauen, Abschreckung real machen.

Unbequem, teuer, riskant – aber die einzige Alternative zu Putins Vormarsch und Trumps Scheinfrieden. Alles andere wäre: Putins Vormarsch, Trumps Scheinfrieden, und unsere eigene Unterschrift unter diese faktische Kapitulation.

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