Weltordnung mit Wärmflasche

Decke drüber – und weiter?
Wie viele da draußen möchten sich nicht auch am liebsten die Decke über den Kopf ziehen, um mit all dem Leid nichts mehr zu tun haben. Die Welt wird von Kriegen erschüttert, ist zu widersprüchlich, zu erschöpft von sich selbst.
Wie müssen sich eigentlich die Politiker fühlen, die die Großbaustellen dieser Welt geerbt haben – mit einem Werkzeugkasten, der kaum mehr enthält als das rostige Besteck ihrer Vorgänger?
Natürlich ist das oberste Ziel jedes Politikers, das Wohl der eigenen Nation im Blick zu behalten. Aber manche haben genau das so maßlos betrieben, dass sie die Welt damit nachhaltig ins Chaos gestürzt haben. Manches Mal auch durch Nichtstun.
Wenn schon der Flügelschlag eines Schmetterlings theoretisch das Wetter verändern kann – was richtet dann eine geopolitische Fehlentscheidung an, die noch dazu als „strategischer Vorteil“ verkauft wurde?
Es ist übrigens nicht – man mag es kaum glauben – die Schuld Trumps, dass es einen Gottesstaat Iran gibt, der sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben hat. Auch nicht die Netanyahus. Beide haben allerdings weit im Vorfeld des aktuellen Konflikts das Ihrige dazu beigesteuert, um es nicht besser zu machen.
Und es ist nicht die Schuld Selenskyjs, dass Putin einst das Steuer übernahm und begann, das russische Großreich wieder zusammenzuklauben. Er kann jedoch wirklich nichts dafür – anders als Trump, der das Atomabkommen mit Iran in seiner ersten Amtszeit in den Papierkorb warf. Oder Netanyahu, der die Hamas-Finanzierung am Ende ganz praktisch fand, um Ruhe vor den billigen Plätzen zu haben.
Doch einige der folgenschwersten Fehler wurden früher gemacht. Weit früher. Damals, als heutige Entscheidungsträger vielleicht noch nicht einmal zur Schule gingen. Trump vielleicht ausgenommen. Der war aus aktueller Krisenperspektive immer schon da – und baute Häuser, jonglierte mit Deals, polierte seinen Auftritt.
Wer Politik als das begreift, was sie sein sollte – die kontinuierliche Entwicklung eines Gemeinwesens – der muss sich zugestehen: Unsere Demokratien haben bestimmte Gefahren nicht nur unterschätzt. Sie haben sie über Generationen wirtschaftlich hofiert, moralisch geduldet, strategisch begünstigt. Und den Menschen in Iran, der Ukraine, in Gaza, in Israel, wurde jahrzehntelang zugemutet, irgendwie damit klarzukommen.
Wir schauen oft erst dann richtig hin, wenn es uns betrifft. Wenn Geflüchtete drohen, zu kommen. Wenn Handelswege blockiert werden. Wenn ein „hybrider Angriff“ plötzlich auch uns trifft. Oder gar atomare Strahlung.
Aber wenn Israel nach Jahrzehnten permanenter Bedrohung durch Teheran nun sagt: Wir lösen das Problem diesmal an der Wurzel – nee, dann mögen wir das gar nicht.
Wenn die Ukraine – nach Jahren des Warnens, Sterbens, Beschwörens – beginnt, das russische Hinterland zu treffen, um wenigstens wirtschaftlich Parität herzustellen, dann ist uns das auch nicht recht.
Wir sagen: Der Iran soll nicht kollabieren – es könnte ja Bürgerkrieg geben. Lieber ein rigides Terrorregime mit Hinrichtungsrekorden als geopolitische Unordnung.
Wir sagen: Die russische Föderation darf nicht zerfallen – zu viele Atomwaffen in zu vielen Provinzen, zu viel schönes Öl, das am Ende nicht ankommt. Lieber ein Tyrann, der hart durchgreift als ein unbeherrschbares Chaos ohne Ansprechpartner.
Was wir nicht sagen: Dass Israel und die Ukraine nach Jahrzehnten des Terrors vielleicht einfach einmal Ruhe verdient hätten. Dass es nicht die Ukraine und auch nicht Israel waren, die diesen Hass erfanden – aber gelernt haben, mit ihm zu leben. Und ja, auch dort gibt es rechtsextreme Strömungen, zumindest in Israel. Auch dieses Land kennt keine moralische Unschuld.
Aber warum verlangen wir Mäßigung von Israel und der Ukraine – und gewähren im gleichen Atemzug dem Iran und Russland jedes Ausmaß an Fanatismus, solange diese sie nur stabil bleiben – als Horrorstaaten? Warum verlangen wir von Israel und der Ukraine eine Leidensfähigkeit, die wir dem russischen oder iranischen Volk nicht mal im Konjunktiv zumuten?
Warum müssen sich die Ukraine und Israel jeden Gegenschlag genehmigen lassen – während Putin und die Schergen des Ayatollahs täglich Zivilisten bombardieren?
Warum darf Israel nicht das ganz große Besteck auspacken – obwohl noch immer Geiseln in den Tunneln von Gaza sitzen? Warum ehrt man die Ukraine nicht noch einmal doppelt, weil sie eben kein Terrorregime, sondern einst freiwillig ihre Atombomben abgab. Zum Dank treten wir ihr heute doppelt und dreifach in die Magengrube.
Wie können wir in einer Welt solcher kaputten Maßstäbe überhaupt noch von „Diplomatie“ reden? Geschweige denn von „Frieden“?
Welcher „Friede“ ist gemeint? Sicher nicht der Friede der Menschen, die über Jahrzehnte ihre Liebsten verloren haben – weil sich andere einst bemüßigt fühlten, sich unrechtmäßig zu nehmen, was ihnen nicht zustand.
Die Ukraine ist vielleicht das deutlichste Beispiel dafür, wie westliche Prinzipien klingen, wenn sie nicht verteidigt werden.
2014 annektiert Russland die Krim – der Westen mahnt.
2022 beginnt der Großangriff – der Westen sagt: Jetzt aber hallo! Und liefert dann verspätet, was hätte verhindern können, was nun nicht mehr rückholbar ist.
Selenskyj wird sogar eingeladen und gefeiert – doch beim G7-Gipfel 2025 in Kanada darf er zwar mitessen, aber nicht mitentscheiden. Nur das Staatsdinner. Kein Einfluss. Nur Symbolik. Und während drinnen die Gläser klingen, schickt Russland als Grußbotschaft 22 Tote aus Kyjiw.
Putin versteht diese Logik besser als jeder andere. Er riecht unsere Angst. Er bombardiert nicht aus Notwendigkeit – sondern aus Kalkül.
Und Trump? Der forderte Kyjiw auf, bitte keine russischen Energieanlagen mehr anzugreifen – während Russland genau das in der Ukraine systematisch tut.
Der Aggressor darf nicht provoziert werden. Der Verteidiger soll Rücksicht nehmen.
Dieser Krieg ist nicht nur militärisch. Er ist psychologisch. Symbolisch. Und er zeigt jeden Tag, wie aus dem westlichen Sicherheitsversprechen ein weichgezeichnetes Selbstgespräch wurde.
Und nun beginnt der Westen, sich am Iran abzuarbeiten – mit denselben Mustern, derselben Angst, derselben Halbherzigkeit.
Der 7. Oktober hätte ein Weckruf sein können. Stattdessen wurde er zur diplomatischen Pflichtübung. Klare Worte an die Hamas – aber keine klaren Taten gegen deren jahrzehntelangen Sponsor. Der Iran blieb im Windschatten. Dabei weiß jeder, woher das Geld kam. Wo die Raketen herkommen, woher der über Generationen gezüchtete Hass.
Jetzt, da Israel die Revolutionsgarden angreift, ruft nicht nur Macron zur Zurückhaltung auf. Ein Regimewechsel? Um Gottes willen nein! Denkt an Libyen! An Irak!
Und doch ist klar, was geschieht, wenn man Teheran gewähren lässt: Das Mullah-Regime wird wieder brutaler gegen das eigene Volk vorgehen. Radikaler gegenüber Israel. Aufgerüsteter durch seine Proxys wie Hisbollah, Houthi, Hamas – nicht besiegt, nur angeschlagen.
Israel kennt das Spiel zur Genüge und tut, was der Westen nicht mehr hinbekommt: handeln, während andere noch debattieren.
Trump sagt immerhin lauthals „Basta“ – aber nur in eine Richtung. Gegen die Ukraine. Gegen Putin schweigt er. Gegen Khamenei kündigt er „maximalen Druck“ an – allerdings mag ihm niemand richtig glauben.
Die Soziologin Eva Illouz konstatiert in der Zeit: „Diese Islamische Republik hört auf nichts, außer auf Gewalt.“ Und: „Netanjahus Koalition erfüllt in vielerlei Hinsicht genau die Wünsche des Iran.“
Das ist der bittere Punkt: Ja, Netanyahu ist gefährlich. Aber der Iran ist existenziell bedrohlich.
Wer glaubt, Israel sei bloß ein „Imperialist unter vielen“, verkennt die Struktur dieses Konflikts. Israel ist nicht unschuldig – aber es ist eine Demokratie. Eine, die ringt. Und die sich gegen ein Regime verteidigt, das seit Jahrzehnten ihre Auslöschung propagiert.
Der Westen steht damit vor einer doppelten Aufgabe:
Er muss Demokratien schützen, ohne ihre Fehler zu decken.
Und Diktaturen konfrontieren, auch wenn ihre Zerstörung Risiken birgt.
Nur eines darf er nicht mehr tun: wegsehen und den eigenen, egoistischen Vorteil suchen.
Was früher George W. Bush als „Achse des Bösen“ denunzierte, nennt sich heute: „strategische Kooperation“.
Russland, Iran und China haben längst verstanden, was der Westen nicht wahrhaben will:
Dass Schwäche kein Frieden ist – und Schweigen kein Prinzip.
Während Moskau Kyjiw bombardiert, Teheran seine Satellitenarmeen regeneriert und Peking mit wirtschaftlichem Druck Länder diszipliniert, redet Europa über Deeskalation. Und liefert Maschinen, Verträge, Überschüsse.
Die neue Weltordnung wird nicht beschlossen – sie wird gemacht. In Drohnenfabriken und in Öldeals.
Was bleibt also von unseren Prinzipien, wenn sie durch Angst verhandelbar werden?
Was bleibt von Solidarität, wenn sie nur selektiv gilt?
Was bleibt vom Westen, wenn er seine Verbündeten „die Drecksarbeit“ machen lässt, wie Merz es formulierte – aber nie eine einzige mutige Entscheidung trifft?
Die Ukraine kämpft seit 2014 für unser Europa.
Israel kämpft gegen einen Gegner, der seine Vernichtung fordert.
Iranerinnen kämpfen seit Jahrzehnten gegen ein Regime, das sie verschleiert, verstümmelt, foltert.
Palästinenserinnen kämpfen gegen Krieg, Korruption, die anerzogene Unmündigkeit – und die Terroristen, die aus ihrer eigenen Mitte stammen.
Sie alle zahlen den Preis dafür, dass wir Prinzipien predigen – und Kompromisse praktizieren.
Und Erdoğans heutiger Vergleich Netanyahus mit Hitler? Er sagt alles – außer etwas über seine Freundschaft zu Putin und dessen Bomben. Und dass er ein ehrenvolles Mitglied in unseren Kreisen ist.
Diese Welt hat nicht nur ihre Maßstäbe verloren.
Sie hat ihre moralische Intelligenz versenkt.
Solange das so bleibt, wird es keinen Frieden geben.
Nur Pausen zwischen den Einschlägen.
Es reicht nicht, Terror zu verurteilen.
Es reicht nicht, Demokratien zu beklatschen.
Es reicht nicht, Autokraten zu verwalten.
Höchste Zeit, diese Ursünden menschlichen Miteinanders endlich zu befrieden.
Von Frieden möchte ich gar nicht reden.
Ich bin dann mal unter meiner Decke.