Loslassen – und trotzdem hoffen

Loslassen – und trotzdem hoffen

Zwei E-Mails einer Leserin zur Frage: Was bleibt, wenn Utopien zerfallen?

Wie reagieren Leser:innen auf meine Texte? Manchmal mit Widerspruch, manchmal mit Ergänzungen – und manchmal mit etwas, das sich wie Fortsetzung anfühlt.
Ulrike hat mir zwei E-Mails geschrieben, nachdem sie meinen Beitrag zum SPD-Manifest gelesen hatte. Ich veröffentliche sie mit ihrer Erlaubnis – anonym, aber unverändert.
Es geht um die SPD, um Selbsttäuschung, um politische Klarheit.
Und um die Frage, wie man Hoffnung nicht verliert, wenn man alles loslassen muss, was einmal wie Zukunft klang.

(Die Zuschriften beziehen sich auf meinen Beitrag „Viel Lärm: Ablenkung vom Krieg und echter Hilfe“ vom 13. Juni 2025. Ulrike hat der Veröffentlichung in anonymisierter Form zugestimmt.)


Erste E-Mail

Liebe Regina,

danke dir für den Text (bewahre das alles gut, das sollte nächstes Jahr ein Buch werden!).

Ganz und gar gehe ich mit dir mit in dieser Entwicklung – mit der SPD, der Utopie, fest verankert auch im eigenen Tun –
und dann Schritt für Schritt weg. (Meine Utopie saß sogar noch weiter östlich, "⅙ der Erde ist rot", das hatte aber klar biografische Hintergründe.)

Ich nenne das Verdrängungsmuster das "Rumpelstilzchen": Erst wenn man den Namen nennt, laut und deutlich, wird das Monster seine Kraft verlieren. Bis dahin bringt es nur Kummer, Verderben, Tod ("der Königin ihr Kind").

„Ich sage, wer/was du bist“ – im persönlichen Bereich kam ich über die Jahre darauf.
Aber hier passt es auch. Solange der Täter nicht klar und kompromisslos benannt wird, kann er offen oder im Schutz der selbst produzierten Rauchschwaden seine Mordtaten begehen.

Unterschied:
Im Persönlichen ist die Frage nach dem Grund der Verdrängung hilfreich. Hier interessieren mich die Gründe dieser alten, in ihrer Geschichtsklitterungsröhre stecken gebliebenen Männer (und ich bin älter als etliche von ihnen): NULL.

Vielleicht liegen Gründe in der Unfähigkeit von Bildungsbürgertümern, Aggression als Teil des Lebens wirklich zu begreifen. Sie in ihr Selbstbild einziehen zu lassen. Da liegt wohl auch der Hase im Pfeffer bei den US-Dems: man GLAUBT nicht, dass diesdas geschehen könnte.

Aber: es geht um WISSEN, nicht um glauben, für möglich halten. Zu Mariupol, Butscha usw. gibt es Wissen, Fakten.

Stattdessen heult Verheugen um (großartig) zerschossene Bomber. Hätte das zu Vietnamkriegszeiten einer gebracht, hätte man ihn ins Kuckucksnest umgesiedelt.

Heute ist Zweifel an Mord und Totschlag en vogue, mit Schnittchen und Protokoll beim nächsten Podium.

Ich hab keine Begriffe mehr für meine Wut, Enttäuschung und auch langsam aufsteigende Angst.

Ganz herzlich – Ulrike

Zweite E-Mail

Liebe Regina,

ja, ist o.k., gern, es freut mich, dass du damit etwas anfangen kannst.

Vielleicht ist das überhaupt ein Basisthema: Loslassen. Von Utopien, die nur noch Hüllen sind.

Wie denken wir dann Zukunft?

Die Ukraine hatte die Utopie, dass Budapest etc. gelten würden, sie ein selbstständiger Staat sein und werden könnten, vor dem riesige Aufgaben (Korruption, Handel mit EU entwickeln etc.) lagen.
Vertrauen in diese Utopie, obwohl man den Missgünstigen auf der anderen Seite des Flusses kennt, seit Jahrhunderten.

Das sowohl aufzugeben wie auch zu bewahren ist eine unglaubliche Leistung, und vielleicht liegt in der so tief gehegten Hoffnung auf echte Unabhängigkeit ein Kern für die Kraft der Menschen dort?

Utopie heute heißt für mich z.B. Frieden in Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie.
Hört sich an wie von Feministinnen der 70er Jahre, aber so weit voneinander entfernt ist das alles nicht.

Ganz herzlich – Ulrike

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