Gebt mir zehn Gebote – und ich zeige euch zehn Gründe, sie zu brechen

Ein Briefwechsel mit Voltaire, gechannelt aus dem Jenseits im Jahre 2025
Madame, Monsieur,
ich grüße Sie aus dem Jenseits – wo ich seit 1778 darauf warte, dass Sie es endlich besser machen als wir.
Wir führten einst die Feder der Aufklärung und bezahlten mit dem Kopf. Sie dagegen baden in moralischer Selbstgefälligkeit wie Kardinäle im Weihwasser – und lassen die Welt dabei vor die Hunde gehen.
Statt Aufklärung haben Sie Gremien.
Statt Mut haben Sie Mandate.
Statt Revolutionen haben Sie Resolutionen, die nicht einmal mehr Empörung auslösen.
Sie halten das Völkerrecht empor wie Moses die Tafeln – bloß dass Sie selbst längst das Kalb vergolden.
Sie predigen Menschlichkeit, wo es nichts zu predigen, aber viel zu verhindern gäbe.
Und wer nicht bei drei "UN-Charta" ruft, gilt als Ketzer.
Erlauben Sie mir einen Einblick aus der Ewigkeit:
Ich beobachte Ihre Vereinten Nationen.
Was für ein Begriff!
Vereint worin?
In der Macht des Vetos? In der Kunst, nichts zu tun?
Russland, China, Iran – allesamt Mitglieder in gutem Stand.
Ihre Vertreter schütteln höflich Hände, während ihre Regime verschleppen, zerschlagen, zwangsverheiraten, verstummen lassen.
Und Sie?
Sie debattieren, ob Israel zurückschlagen darf.
Ob die Ukraine sich wehren darf.
Ob ein Präventivschlag ein Verbrechen sei –
während der Angreifer längst sein Messer schleift.
Sie klammern sich ans Recht wie ein Ertrinkender an Ideale, während das Wasser der Realität bereits über Ihrem Kopf zusammenschlägt.
Das Völkerrecht ist kein Heiliger Gral.
Es ist ein Instrument. Und wer es führt, sollte nicht blind sein.
Ich sehe Ihre Umweltgipfel auf roten Teppichen.
Ihre CO₂-Deals. Ihre Plastikversprechen.
Und ich sehe die Wüsten wachsen, das Eis schmelzen, die Kinder fliehen.
Ich sehe Ihre Kirchen, die schweigen, wenn ihre Gläubigen Steine werfen.
Ihre Linken, die Tyrannen verteidigen, solange sie antiwestlich sind.
Ihre Rechten, die vom Abendland sprechen und gleichzeitig Waffen an Diktaturen verkaufen.
Und ich sehe Ihre wirtschaftliche Scheinheiligkeit:
Sie predigen Völkerrecht –
und überweisen dem Diktator in Moskau Milliarden für Gas, als wäre es Lourdeswasser.
Sie finanzieren seinen Krieg – und rufen gleichzeitig „Nie wieder!“.
Was denn nun? Frieden oder Fernwärme?
Sie mahnen iranische Hängungen an,
bitten aber den Mullah höflich, sein Uran nicht zu stark anzureichern –
das störe die westliche Nervosität.
Als könnte man einen Tiger auf Tofu umstellen.
Und Israel?
Es muss makellos sein, damit Sie sich selbst für moralisch halten.
Nach Auschwitz darf dort kein Arschloch regieren – sonst, so meinen Sie, sei der Schoß erneut fruchtbar, aus dem das Böse kroch.
Was für ein Irrtum!
Ein demokratischer Staat hat auch das Recht, dumm zu wählen.
Kritik ist erlaubt – aber nicht die Aberkennung seiner Existenz.
Oder die Ukraine: Heldinnen im ersten Satz, Pipeline-Saboteure im nächsten.
Russische Ölfelder zu bombardieren? Unsympathisch.
Weil dann bei Ihnen der Sprit teurer würde.
Und wer mag schon frieren für Kyjiw?
Sie behaupten, das Völkerrecht sei heilig –
aber Sie meinen: bequem.
Denn solange die internationalen Verhältnisse stabil bleiben,
darf ein Diktator sein Volk prügeln, vergiften oder am Kran baumeln lassen.
Es reicht ja, wenn Ihre Wirtschaftsdelegationen kurz empört mahnen,
bevor sie zum Abendempfang übergehen.
Aber wehe, eine Rakete fliegt in Ihre Richtung –
dann wird’s völkerrechtswidrig.
Ihre zehn neuen Gebote –
von mir notiert, von Ihnen gebrochen:
- Du sollst nicht töten – es sei denn, du lieferst die Waffen nur.
- Du sollst nicht lügen – es sei denn, dein Ölpreis hängt daran.
- Du sollst keinen Menschen unterdrücken – es sei denn, er hat keinen westlichen Pass.
- Du sollst kein fremdes Land überfallen – es sei denn, es hat Massenvernichtungswaffen (die es nicht hat).
- Du sollst keine Despoten dulden – es sei denn, sie sind wirtschaftlich gut vernetzt.
- Du sollst für Gerechtigkeit kämpfen – es sei denn, dein Mandat erlaubt es gerade nicht.
- Du sollst Israel belehren – aber Hamas nicht benennen.
- Du sollst dich um das Klima sorgen – solange du deinen SUV nicht abgeben musst.
- Du sollst Flüchtlinge schützen – solange sie nicht an deinen Grenzen stehen.
- Du sollst „Nie wieder“ sagen – aber möglichst leise, bitte.
Und all das in einer UNO,
in der diejenigen das Sagen haben,
die die dicksten Atombomben besitzen.
Vielleicht braucht es eine neue Revolution –
diesmal ohne Guillotine.
Vielleicht braucht es eine neue Aufklärung –
nicht auf Pergament, sondern in Herzen.
Vielleicht braucht es eine Weltverfassung –
nicht geschrieben von Staaten, sondern von Menschen.
Vielleicht braucht es endlich Sie.
In diesem Sinne,
Voltaire
verfasst im Jenseits, am 15. Juni 2025