Viele Fragen. Wenig Antworten. Und eine Menge Nebel.
Selenskyj reiste an, bekam Symbolik statt Substanz – und dennoch ein Signal, das Wellen schlägt. Was Merz präsentierte, war kein Gamechanger. Oder vielleicht doch – je nach Perspektive.

Was vom Selenskyj-Besuch in Berlin bleibt
Gestern schien es kurz so, als ob Deutschland endlich liefert.
Fünf Milliarden Euro für weitreichende Waffen, technische Zusammenarbeit, Starlink-Finanzierung, volle Unterstützung – auch ich habe darüber geschrieben und verspürte, zugegeben, einen kurzen Moment der Hoffnung.
Heute sehe ich das etwas differenzierter.
Denn einen @ronzheimer-Podcast, jede Menge Zeitungsberichte und einige fundierte X-Meinungen später gibt es neue Antworten, die ich euch nicht vorenthalten möchte.
Um es kurz zu machen:
Was Merz da gestern präsentierte, war vor allem eines:
strategisch inszenierte Verpackung.
Versprochen, verkündet – und doch nicht viel Neues
In der Pressekonferenz war gestern von fünf Milliarden die Rede.
Klingt groß. Klingt neu.
Ist es bei genauerer Betrachtung aber nicht:
Was Merz am 28. Mai als Neuigkeit verkaufte, wurde bereits im März 2025 beschlossen.
Und was da im März beschlossen wurde, stammte schon aus dem Dezember 2024.
Klingt groß. Klingt neu.
Ist es aber nicht.
Medienwirksames Ukraine-Unterstützungs-Recycling für Fortgeschrittene, nennt man das dann wohl.
Merz hat also öffentlich gemacht, was längst feststand.
Bis gestern hatte man manches offenbar bewusst nicht öffentlich gemacht – mutmaßlich, um keine lästigen Debatten in Deutschland auszulösen.
Die Pressekonferenz mit Selenskyj wirkte nach einer langen Durststrecke daher auf viele wie ein plötzlicher Befreiungsschlag:
laut, sichtbar, entschlossen.
Nicht aber in erster Linie, um Putin aufzuhalten – sondern, weil man der Welt endlich etwas präsentieren musste.
Was muss dabei in Selenskyj vorgegangen sein, der sicher besser als alle Hauptstadtjournalisten zusammen jederzeit auf dem Zettel hat, was von wo noch zu erwarten ist.
Er war extra nach Berlin gekommen. Dabei ist er wegen der dräuenden Sommeroffensive der Russen dermaßen im Zeitstress, dass er sogar die für heute geplante Verleihung des Karlspreises in Aachen hat sausen lassen.
Wofür war er also gekommen?
Für Symbolik ohne Substanz?
Wurde er wirklich eingeladen, um ein vor Monaten geschnürtes Paket öffentlich und feierlich zu übergeben?
Oder geschah hinter den Kulissen doch mehr, als kommuniziert wird?
Selenskyj hatte nur eines auf seiner Wunschliste: den Taurus
Um den ging es gestern aber gar nicht. Wieder einmal nicht. Obwohl Merz vor seiner Wahl kaum über etwas anderes sprach.
Dafür schwärmte Merz von einer technischen Zusammenarbeit mit der Ukraine und lenkte damit enttäuschte Gemüter in eine positive Richtung:
Statt Taurus sollten mit deutscher Technik weiter entwickelte Waffen die neuen „Gamechanger“ werden.
Um was es konkret geht, wurde allerdings nicht benannt.
Handelt es sich um ukrainische Marschflugkörper mit Taurus-Bauteilen, um umgebaute ukrainische Lenkraketen, vielleicht sogar nur um Drohnen?
Relativ sicher lässt sich sagen:
Die geheime Hilfstechnik der Deutschen soll zumindest aus dem ukrainischen Neptun eine neue „Wunderwaffe“ machen. Der Neptun, mit dem die Ukraine am 13. April 2022 heldenhaft das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, die Moskwa, wie eine Gummiente mit Loch untergehen ließ.
Was auch immer da entsteht, hieße dann eben nicht Taurus, soll aber gewisse Fähigkeiten haben.
Offiziell bleibt der Taurus jedoch weiter ein Tabu.
Inoffiziell heißt es nun: Man entwickle gemeinsam neue Systeme.
Doch wie realistisch ist das eigentlich – politisch wie technisch?
Chris bringt’s auf den Punkt
Chris (@EiWasDann) hat nach Merzens Auftritt gestern schnell reagiert und einen Faden geliefert, der nüchtern und treffsicher alle Hoffnungssuchenden daran erinnerte, woran es beim Taurus-Fischertechnik-Baukasten dann leider hapern wird.
Deutschland hat nicht die alleinige Entscheidungsgewalt über sämtliche Bauteile:
- 🧷 Triebwerk: Williams P8300-15 – US-Hersteller, Exportkontrolle
- 🧷 Navigationssystem: Northrop Grumman LITEF – US-Tochter, ITAR-pflichtig
- 🧷 GPS-Modul: SAASM-kompatibel – wieder US-Lizenz
Und folgert:
„All diese wesentlichen Komponenten sind also von der Export-Zustimmung der USA unter Trump abhängig. [...] Jetzt denkt bitte jede/r nochmal 2 Sekunden nach, wie wahrscheinlich das ist.“
Ein trockenes Fazit – und vielleicht das präziseste Statement des ganzen Tages.
Taurus ist eben nicht nur ein innerdeutsch-politisches, sondern ein transatlantisches Problem.
Ein Paket voller Nebel – und alle rasten aus
Was Merz gestern jedoch verkündete, ist dennoch nicht nur heiße Luft –
und scheint laut Bundeswehr zumindest „in wenigen Wochen einsatzbereit“.
Niemand weiß genau, was gebaut wird – aber schon der Satz reicht, um Schlagzeilen zu machen. Und um Putin und seine Unterstützer um den Schlaf zu bringen.
Denn eines ist auffällig:
Putins Claqueure weltweit laufen Sturm.
Von Moskau über den Wagenknecht-Kosmos bis zur AfD, von russischen Diplomaten bis zur Querfront –
allein die gestrige Pressekonferenz reichte, um in einer riesigen Welle der Empörung von „deutscher Kriegsbeteiligung“ zu salbadern.
Dabei ist noch gar nichts geliefert. Vielleicht nicht einmal entschieden.
Ein Bündel alter Zusagen, neu verpackt, öffentlich inszeniert –
um Druck aufzubauen, während nichts Konkretes eskaliert, aber Selenskyj etwas zum Mitnehmen hat.
Und wenn es nur die Gewissheit ist, Putin endlich den Stinkefinger gezeigt zu haben.
Abschreckung durch Ambivalenz – Merzens Taktik?
Tatsächlich wiederholen es einschlägige Experten nun seit Jahren in Dauerschleife:
„Putin reagiert nicht auf einzelne Waffensysteme, sondern auf Schwäche.“
Schon bei der Lieferung von 5000 Helmen sprach Moskau von „Eskalation“.
Und: Immer wenn der Westen zögerte, schlug Russland in der Ukraine brutaler zu.
Von daher ist Selenskyj in Zeiten der Not womöglich doch nicht umsonst gekommen:
Es wurde zumindest ein fein kalibriertes Signal ausgesendet.
Eines, das vielleicht stärker wirkt als tausende Eisenbahnwagons mit Munition aus Nordkorea:
Deutsch-ukrainische Power – ohne militärisch etwas vorweisen zu müssen.
Ein Besuch, der Fragen zurücklässt
Ja, es ist vielleicht enttäuschend. Wieder einmal konnten nicht alle Fragen beantwortet werden.
Nach dem Auftritt Selenskyjs in Berlin bleibt weiterhin einiger Nebel.
Sicher ist nur:
- Es gibt (erst einmal) keinen Taurus.
- Es gibt keine neuen Mittel.
- Es gibt effektiv noch keinen Durchbruch.
Statt endgültiger Antworten zu liefern, kann ich daher nur mit einer Vermutung schließen:
Wir sind längst mittendrin.
In einem stillen aber offensiven Kriegsmodus – der nur deshalb funktioniert, weil ihn keiner so nennt.